Ausgerechnet zu ihrem 40. Jubiläum ist "WISO", die ZDF-Sendung für Wirtschafts- und Verbraucher:innen-Themen, am vergangenen Montag ausgefallen: Ein "ZDFspezial" zum bundesweiten Protest der Landwirt:innen und eine Dokumentation über den gerade verstorbenen Franz Beckenbauer hatten aus Aktualitätsgründen Vorrang.

Damit blieb den "WISO"-Stammzuseher:innen zumindest vorerst eine kleine Überraschung erspart. Denn für die an diesem Tag eigentlich geplante Spezialausgabe hätte Redaktionsleiter und Moderator Marcus Niehaves sein Publikum mal nicht wie üblich im Studio begrüßt.

Stattdessen hätte es nach "heute" und "Wetter" eine Geburtstagstafel mit Kuchentellern, Sektflöten und Geldkuverts zu sehen gegeben, dazu wäre Happy-Birthday-Geklimper gelaufen und eine Stimme aus dem Off hätte gefragt: "Weißt du noch, was du zu deinem 18. Geburtstag geschenkt bekommen hast? Geld von den Eltern, ein bisschen Cash von Oma und Opa? Was aber, wenn's noch mehr gewesen wäre – viel mehr? Sagen wir: 20.000 Euro vom Staat!" Klick! – ein Geldkoffer öffnet sich, es regnet Scheine, die Geburtstagsmusik weicht einem fetten Beat. Und schon ist der Film mittendrin im Thema "Ein Erbe vom Staat? 20.000 Euro für Jeden".

Top-Empfehlung in der Mediathek

Beim Clash der Steuerexperten wird anschließend erklärt: Woher kommt die Idee vom "Grunderbe"? Ließen sich damit gesellschaftliche Ungerechtigkeiten ausgleichen? Wie könnte man das finanzieren? Und bräuchte es Bedingungen, an die eine Vergabe geknüpft sein sollten?

Die beiden Filmemacherinnen Ute Mattigkeit und Katrin Ohlendorf (gomie production) begleiten ihre jungen Hauptprotagonist:innen durchweg in deren Alltag, sie lassen die Kamera mit in die Wohnung gehen und in den Raum, wo sie gleich um einen Gründungszuschuss für ihre Selbstständigkeit pitchen wollen. Alle Gesprächspartner:innen öffnen einen Geldkoffer und werden gefragt: Was würdest du damit machen?

Die Doku wägt Argumente ab, wirft neue Ideen auf und erklärt, was daran schwierig wäre und wie es anders funktionieren könnte. Die Ergebnisse werden zwischendurch immer wieder auf einem knallbunten Schaubild zusammengefasst.

So gelingt es "Ein Erbe vom Staat?" auf geradezu vorbildliche Weise, einen komplexen Sachverhalt ungekünstelt in Umgangssprache zu erklären, sodass man bei der nächsten Party problemlos die Tücken einer Erbschaftssteuerreform erläutern kann und wirklich um einiges schlauer den Laptop mit der Mediathek im Browser zuklappt – denn genau für die ist die Doku ganz offensichtlich in erster Linie gemacht. Und war dort in den vergangenen Tagen eine der Top-Empfehlungen.

Die Rettung heißt: Doku

Das ZDF folgt damit einem prognostizierten Trend, der vielen vor allem deshalb in Erinnerung geblieben sein mag, weil innerhalb der ARD zunächst heftig darüber gestritten wurde. Drei Jahre ist es her, dass Pläne der damals frisch ins Amt gekommenen Programmdirektorin Christine Strobl publik wurden, nach denen etwa die Redaktionen von "Panorama", "Monitor", "Kontraste" & Co. im Ersten weniger Sendeplätze mit regulären Magazinsendungen bestreiten sollten – und dafür mehr Dokus abliefern.

Es folgte ein branchenweiter Aufschrei inklusive Solidaritätsbekundungen und dramatischen Niedergangsprognosen; Strobl musste sich fragen lassen, ob sie "einen Dolch gerade in das Herz des ARD-Programmauftrags" stoße und hatte große Mühe, die Diskussion wieder einzufangen, um zu erklären, worum es ihr eigentlich geht.

Einige Zeit zuvor hatte bereits der damalige ARD-Mediatheken-Chef (und heutige HR-Intendant) Florian Hager das zugrunde liegende Problem erläutert: Klassische TV-Magazine seien "ideal für die lineare Welt"; online allerdings würden Inhalte völlig anders konsumiert. Daher müsse es darum gehen, "eine Form zu finden, wo wir diese Themen, die für uns extrem wichtig sind, auch in der Zukunft in einer non-linearen Welt erfolgreich gestalten können".

Und diese Form ist, da sind sich die Programmverantwortlichen senderübergreifend einig: Doku.

Der Kampf um mehr "Einzelstücke"

"Wir haben große internationale Player, die hier in den Markt drängen, die mit gigantischen Budgets gerade im Feld der Dokumentation uns angreifen", erklärte Strobl später. Denen wolle sie dieses im Kern öffentlich-rechtliche Genre nicht kampflos überlassen. Deshalb gehe es in erster Linie darum, "längere Stücke zu bekommen aus den Magazinredaktionen", "eigenständige Angebote für die Mediathek (…), die wir so dringend brauchen".

Zusätzliches Geld ist dafür nicht vorhanden; folglich müssten Budgets umgeschichtet werden, um einen Ausgleich zu schaffen zwischen regulären Magazinen fürs Lineare und monothematischen Stücken für die Mediathek, mit der die ARD verstärkt jüngeres Publikum erreicht, um ihren Auftrag zu erfüllen.

Auch in den Landessendern wird umgedacht. BR-Intendantin Katja Wildemruth schwärmte im DWDL-Interview vergangenes Jahr, dass "viel mehr Freiheit [bleibt], Themen vor allem inhaltlich anzugehen", wenn man "das Denken in Sendeplätzen aus dem Kopf bekommt". Und MDR-Programmdirektorin Jana Brandt erklärte, dass man sich die eigenen Magazinformate auf ihre Tauglichkeit fürs Non-Lineare angesehen und zu dem Schluss gekommen sei, darauf nicht vollständig verzichten zu wollen, aber eben auch: öfter "mediathekstaugliche Einzelstücke" unter "vorhandenen Labels" zu machen.

Mehr "WISO"-Dokus im neuen Jahr

Oder, anders gesagt: Formatmarken, die bislang vor allem als Klammer verschiedener Kurzbeiträge dienten, müssen sich ein Stück weit zu Doku-Labels wandeln, um auch non-linear existieren zu können, wo Zuschauer:innen sehr viel themengetriebener agieren. Nicht nur im Politbereich.

Genau das passiert gerade auch bei "WISO": Seit 15 Jahren sende man regelmäßig auch Dokumentationen aus den Bereichen Wirtschaft, Service und Soziales, sagt Redaktionsleiter Marcus Niehaves auf DWDL-Anfrage. Zuletzt sei die Zahl der Langformate "nach und nach auf bis zu acht Dokus pro Jahr erhöht" worden. Im vergangenen Jahr waren es wegen "interner Umstellungen" weniger. Aber für 2024 sind nun gleich zehn "WISO"-Dokus geplant, die auch auf dem Sendeplatz am Montag um 19.25 Uhr im ZDF laufen. "Mit jüngeren Erzählformen und jüngeren Themen wird WISO auch die jungen Zielgruppen verstärkt ansprechen und die veränderten Sehgewohnheiten berücksichtigen."

Wäre es, um dieses Publikum anzusprechen, nicht sinnvoller gewesen, eine völlig neue, jünger positionierte Dachmarke einzuführen?

"Da sind sich die Markenexperten einig: Nein", meint Niehaves: zu aufwändig und riskant. "Eine so wertvolle Marke wie WISO muss weiterentwickelt werden. (…) Am Ende geht es auch um Aufmerksamkeit und eine kluge Distribution, wenn wir neue Zielgruppen erreichen wollen – und da ist eine bekannte Marke sehr hilfreich."

Da liegen Welten dazwischen

Gleichzeitig muss "WISO" dafür ganz schön in die Grätsche gehen: Denn nicht nur die Themen, sondern auch Tonalität und Machart müssen sich merklich anpassen.

Während das klassische "WISO" sonst Cornflakes, Tofu und Whisky dem Teuer-oder-Billig-Check unterzieht, den x-ten Bericht übers Kaufhaussterben zeigt, die Ehrlichkeit von E-Auto-Pannendiensten und TV-Reparateuren mit der versteckten Kamera prüft und darlegt, wie man sich auf den Besuch des Medizinischen Diensts vorbereitet, wenn man einen Pflegegrad für Angehörige oder sich selbst beantragen möchte, duzt die Grunderbe-Doku ihr Publikum selbstverständlich und ist konsequent aus der Lebensrealität junger Menschen erzählt. Und wieviele über 60-Jährige interessieren sich wohl für die Frage, wie die deutsche Gaming-Branche tickt?

Die Beiträge mögen alle aus demselben Themenspektrum sein – dennoch liegen Welten dazwischen. Das wiederum könnte sich als problematisch für die lineare Ausstrahlung erweisen – etwa wenn Stammzuseher:innen von der veränderten Ansprache verschreckt werden oder sich von den Dokus schlicht nicht angesprochen fühlen.

Das Grundversprechen ans Publikum zählt

Niehaves ist trotzdem überzeugt, dass es gelingen kann: "Den thematischen Spagat vollzieht WISO schon seit 40 Jahren und das sehr erfolgreich." Entscheidend sei das Versprechen der Marke: "'Wir machen Euer Leben einfacher' war schon immer das WISO-Motto und genau das funktioniert auch bei den Jüngeren", die man ja auch über Kanäle wie Instagram bereits erreiche.

"20.000 Euro für Jeden" ist vorerst weiter nur über die Mediathek abrufbar; vom ZDF heißt es aber, sie werde auch "zeitnah im linearen Programm gezeigt". Schön wäre natürlich: zusätzlich zur bereits geplanten Wiederholung in einer Nacht von Mittwoch auf Donnerstag Ende des Monats (31.1., 3.05 Uhr). Vielleicht ist das aber auch egal, weil die Hauptzielgruppe sie dort genauso wenig sucht und findet wie montags um 19.25 Uhr?

Klar ist bloß: Viele klassische Magazinformate von gestern müssen schon heute ganz anders funktionieren, um relevant zu bleiben. Die Grätsche lebt.

Und damit: zurück nach Köln.

Die erste reguläre "WISO"-Ausgabe des Jahres ist für diesen Montag um 19.25 Uhr im ZDF geplant. "Ein Erbe vom Staat? 20.000 Euro für Jeden" läuft in der ZDF Mediathek. [Nachtrag] Inzwischen steht auch der lineare Nachholtermin fest: am Montag, 19. Februar 2024, 19.25 Uhr im ZDF.