Man kann nicht gerade behaupten, dass sich in der Show, die mal das "Wertegerüst unserer Verfassung" bedroht haben soll, zwei Wochen vorm Finale die Ereignisse überschlagen würden.

Für die Liveshow an Tag 85 kam am vergangenen Montag Cindy aus Marzahn vorbei, um die "Weihnachtswoche" – Weihnachten im Mai, hahaha! – "Last Christmas" singend per Geschenkeberg zu beenden (in pinke Alufolie eingeschweißter Döner für alle) und selbstgereimte Gedichte vorzulesen: "Die Frauke wird gern Schlauke genannt, sie mag den Marcus, dit is bekannt. Da geht's mal hin und auch mal her. Ham die wohl noch Geschlechtsverkehr?" (Bislang: nicht.)

Anschließend zoffte sich der prominente Besuch noch mit dem unsichtbaren Gastgeber ("Cindy, deine Zeit ist leider um" – "Das hast du nicht zu entscheiden. Mich kriegt hier keiner weg"), anschließend: Gruppenumarmung und Abschied. Jochen Schopp ward kurz ungeduldig, als nach einer mimisch unterstützen Zwischenmoderation erst mit Zeitverzögerung der nächste Beitrag lief ("Ja, tschüss. Das war's"), in dem der Höhepunkt des vergangenen Tages zu sehen war: Haferkeksebacken in Penisform.

Gängeleien gegen die Alltags-Ödnis

In der Joyn-App sollten die Zuschauer:innen auswählen, welches Produkt im Lebensmittel-Shop für die Kandidat:innen nicht mehr erhältlich sein wird. Nach der Verkündung des Wochen-Votings musste Bertha die Show verlassen. Und dank der anschließenden offenen Nominierungsrunde war ein für allemal klar: Frauke kommt nicht mit Luanna klar, die nachher schluchzend in der Toilette stand: "Warum tu ich mir das an?"

Und das war wirklich keine schlechte Frage.

Hier ist noch eine: Wie kann es sein, dass dieses bräsige Abfilmfernsehen, bei dem willkürliche Gängeleien darüber hinwegtäuschen müssen, dass mehrheitlich nichts passiert, und jede arglose Antipathie zu einem mittleren Machtkampf aufgegeigt wird, vor einem Vierteljahrhundert fast mal dafür gesorgt hätte, die Gesellschaft an den Rand des Ruins zu führen?

Kleine Erinnerungshilfe: Zur Jahrtausendwende hatte der damals streitbare Privatsender RTLzwei angekündigt, ein TV-Format aus den Niederlanden zu adaptieren, in dem Teilnehmer:innen für 100 Tage rund um die Uhr von Kameras beobachtet würden – komplett abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Alle zwei Wochen sollte eine:r gehen, die oder der Letzte 250.000 Mark erhalten.

Beck, der Mahner

"Du bist nicht allein – 'Big Brother' kommt", tönte der Sender und fantasierte nicht nur 20.000 Bewerber:innen und die Verdoppelung seines Marktanteils herbei, sondern auch 200 Millionen mögliche Besuche auf der begleitenden Website, auf der per Sofortkommerz sogar die im Webstream identifizierte Kaffeemaschine verkauft werden sollte.

"Big Brother" war ein Phänomen, lange bevor das Format überhaupt auf Sendung war – und zu verdanken hatte das RTLzwei in erster Linie: Kurt Beck. Zwei Monate vor der Premiere hatte der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident und Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder einen Brief an die zuständige Landesmedienanstalt geschickt, um seine Besorgnis über das TV-Projekt zum Ausdruck zu bringen: "Die Beschreibung der Inhalte dieser Serie [sic] lässt mich zu dem Schluss kommen, dass hier gegen elementare Grundsätze des Rundfunkstaatsvertrags verstoßen wird."

Beck legte den Medienwächter:innen ein Einschreiten nahe. Man dürfe es sich nicht länger leisten, "einen Werteverfall in unserer Gesellschaft zu beklagen und gleichzeitig derartigen Entwicklungen tatenlos zuzusehen". Vergleichbare Experimente kenne er "bisher nur mit Ratten". Die Jagd auf Quote erlaube aber nicht "allen Mist".

Heiß gelaufene Debatte

In einer aktuellen Stunde des rheinland-pfälzischen Landtags wurde überlegt, wie sich unter Umgehung des Zensurverbots eine "Veranstaltung mit offenkundig geplanter Verletzung der Menschenwürde" verhindern ließe. Und die angeschriebene Medienanstalt war sich nicht zu schade dafür, unter Ausblendung ihrer Nichtkompetenz zur Regulierung einer noch gar nicht gezeigten Sendung beizupflichten – "nach meinem jetzigen Kenntnisstand muss ich damit rechnen, dass wir tätig werden", zwirbelte sich der zuständige Direktor eine Zukunftsprognose zurecht. Beanstandungen über Bußgelder bis zum Lizenzentzug standen zur Debatte.

RTLzwei konterte die "unfaire Stimmungsmache", sagte aber geringfügige Änderungen am Konzept zu, um der vehementen Kritik entgegen zu kommen (kein Sex vor der Kamera, keine WC-Szenen); der damalige VPRT-Präsident Jürgen Doetz mahnte, die Rundfunkfreiheit dürfe nicht beschädigt werden – denn die gelte, selbst wenn sich über Geschmack streiten ließe, "auch für Mist".

Aber da war die Debatte um den "TV-Knast", die "TV-Psycho-Show", das "Menschenexperiment" längst so heiß gelaufen, dass sie sich nicht mehr stoppen ließ.

Erst Aufregung, dann Ernüchterung

Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen fand das Format unverantwortbar, der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken witterte eine Instrumentalisierung der Teilnehmenden und Bundesinnenminister Otto Schily rief – "für die Würde des Menschen" – zum Boykott auf. VW und Deutsche Telekom schlossen Werbebuchungen im Umfeld der Show aus, mit der man "nichts zu tun haben" wolle. Und während der ARD-Vorsitzende Peter Voß vor einem "Fernsehen aus dem Menschenzoo" warnte, startete der HR eine "Big Mother"-WG mit Mäusen unter Dauerbeobachtung und ein Berliner Privatradio stellte für "Big Bunny" eine Webcam in einen Stall voller Rammler.

Bis am 1. März die Auftaktshow mit Kerstin, Manuela, Despina, Andrea, Jana, John, Jürgen, Thomas, Alexander und Zlatko sowie guten, aber auch nicht überragenden Quoten lief und die Aufregung der Ernüchterung wich.

Die "taz" identifizierte in Woche eins "Banalität und Langatmigkeit", es gebe "nicht viel zu sehen, außer Leuten, die dummes Zeug reden, um die Zeit totzuschlagen". Die "Welt am Sonntag" befand über das "Gähn-Programm": "In einer Schlaftabletten-Fabrik herrscht mehr Stimmung." Und die Medienwächter:innen? Berieten sich aufwändig, um unter Zusicherung einer täglichen Kamerauszeit für die Teilnehmenden seitens des Senders, zu befinden: Der Quatsch kann weiterlaufen.

Endlich Hundebesuch im Container

Der Rest ist bekannt. Und mit dem Abstand der seither vergangenen Staffeln und Jahre wirkt die Eskalation von damals – vor allem unter Berücksichtigung der Tristesse, die "Big Brother" seit jeher versprühte – vor allem: kurios.

Seit diesem März läuft nun die 14. Staffel des einstigen "Menschenexperiments" – nach mehreren Jahren Pause und ausschließlich bei der ProSiebenSat.1-Streaming-Plattform Joyn. Die versucht an die Prinzipien der Ursprungsversion (100 Tage, ganz normale Leute, gleicher Titelsong) anzuknüpfen, während dem linearen Fernsehen zwischenzeitlich nur die Promi-Variante der Show als Erfolg erhalten geblieben ist.

Vor allem aber verspricht Joyn zahlenden Nutzer:innen außer knappen Tageszusammenfassungen, sich per Stream jederzeit in die Rund-um-die-Uhr-Beobachtung einklinken zu können. Was inzwischen weniger Protest als Schulterzucken hervorruft.

Am Donnerstagvormittag konnte man den verbliebenen Kandidat:innen Luanna, Maja, Frauke, Benedikt, Christian, Nicos, Marcus und Mateo vornehmlich beim Dauerrauchen im Austritt zusehen; dabei, wie sie klemmende Türen zu öffnen versuchten; "mal Wasser und Hotdog" rauslassen wollten; zu erklären, wie aus dem Getränkemarkt bei ihnen zuhause ein Fitnessstudio geworden ist; und sich – "Bewohner! Versammelt euch vor dem Monitor" – im Bademantel vor der Heimglotze einfanden, um den Besuch von Majas Hund Lilly angekündigt zu kriegen, der nachher mit Quietschkarotte durch die Klemmtür stürmte, um in all der bohrenden Langeweile kurzzeitig für Abwechslung zu sorgen und beim Spielen – "Schatziii", "Hasenfurz"! – neue Gesprächsthemen anzustoßen: "Warum macht der Zunge raus?" – "Weil's heiß ist."

In die Nacht verschoben

Während Joyn zwischendurch enorme, aber nicht näher quantifizier- oder nachprüfbare Erfolge für das Format vermeldete, zeigte die lineare Streaming-Schwester und "Promi BB"-Mutter Sat.1 nach der Auftaktshow von vornherein nur die wöchentlichen Live-Entscheidungen der Traditions-Variante. Die aber sehr nachprüfbar so katastrophale Marktanteile erzielten, dass der Sender sie zur Halbzeit vom 22-Uhr-Sendeplatz tief in die Nacht verschob. (Die letzte vorm Finale läuft von Montag auf Dienstag um 0.25 Uhr im Sat.1-Programm.)

Womit endgültig besiegelt wäre, dass das einstige Skandalformat zum Nischenphänomen geworden ist

Hatten die Kritiker:innen von damals trotzdem recht? War "Big Brother" der Dammbruch, der darauffolgende Voyeurismus-Eskapaden im Fernsehen erst möglich gemacht hat? Immerhin sind hiesige Bewegtbildangebote längst voll mit Reality-Shows, in denen unaufhörlich gestritten, gespuckt, geschrien, intrigiert, geknutscht, gevögelt, verpartnert, getrennt und wieder zusammengeführt wird.

Der unvermeidbare Dammbruch?

Eine realistische Antwort darauf lautet: Mag sein. Aber höchstwahrscheinlich wäre dieser Dammbruch auch dann passiert, wenn deutsche Medienwächter:innen damals mutig eingeschritten wären und der letzten prägenden John-de-Mol-Formatidee frühzeitig den Dolchstoß versetzt hätten.

Denn allerspätestens seit Beginn des Zeitalters der sozialen Medien erscheinen Selbstinszenierung und -vermarktung vielen Mediennutzer:innen als gangbarer Berufsweg. Inzwischen bauen ganze Karrieren darauf auf, von einem selbst aufgestellten "Menschenzoo" zum nächsten zu tingeln. Gleichwohl wissen viele Protagonist:innen, wie sie ihr Wirken in der Öffentlichkeit lenken können, um wahrgenommen zu werden und aus der Masse herauszuragen.

Manche sind sich nicht zu schade, die ihnen dafür von den Formtamacher:innen zugewiesenen Rollen zu spielen und einiges an Pein zu ertragen. (Andere sind einfach nicht die Hellsten.) Aber für die meisten ist es deutlich verlockender, von einer Reality-Wasserstelle zur nächsten zu ziehen, als vierzig Stunden pro Woche im Büro, an der Kasse oder auf dem Bau festgetickert zu sein.

Insta speist the TV Star

Das lässt sich beklagen, zumal angesichts der Masse der Formate tatsächlich ständig neue Tabus fallen – halt bloß mit der Konsequenz, dass sich niemand mehr so recht darüber aufregen mag. (Dass die vielen Social-Media-erprobten Stars, wenn sie im Netz ausreichend Aufmerksamkeit und Follower:innen errungen haben, inzwischen die vermeintliche Prominenten-Version des Auslöserformats in Sat.1 speisen, ist eine hübsche Zusatzironie.)

"Big Brother" als solches kann rechtmäßig von sich behaupten, eine ganze Generation von Medien- und Sozialwissenschaftler:innen vorübergehend in die Vollbeschäftigung gestoßen zu haben, um all die mahnenden Aufsatzsammlungen zu kompilieren, die sich mit TV-Tabubrüchen und gesellschaftlichen Konsequenzen beschäftigten, und die heute ungelesen in den Regalen diverser Universitätsbibliotheken verstauben.

Vermutlich wird es auch nie wieder einer anderen Sendung gelingen, vermeintliche Eliten seinetwegen so ausdauernd mit Trash zu beschäftigen. Aber viel mehr ist nicht geblieben vom Psycho-TV-Skandal.

"Big Brother" ist Fernsehgeschichte

Kurt Beck ist in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden, hat seine politische Karriere lange beendet und in seiner überschaubaren Zeit als SPD-Vorsitzender im Umgang mit seiner Person schon ganz andere Würdelosigkeiten erduldet, nur halt aus der eigenen Partei.

Die Grundfesten der Verfassung werden inzwischen eher von umstürzlerischen Prinzen und stetigen Zulauf erhaltenden rechten Parteien bedroht als von aufmüpfigen Privatsendern.

Und wenn am Montag in einer Woche die 14. Staffel der einstmals "umstrittensten Reality-Sendung im deutschen Fernsehen" zu Ende geht und das – wenn schon nicht vergnügungs-, dann immerhin steuerpflichtige – Preisgeld von 100.000 Euro verteilt ist, steht ein für allemal fest: "Big Brother" ist Fernsehgeschichte. (Mit Betonung auf -geschichte.) Nicht weniger, aber nach all den Jahren halt auch nicht mehr.

Und damit: zurück nach Köln.

Das Finale der aktuellen "Big Brother"-Staffel läuft am Montag, 10. Juni, bei Joyn – und um 0.25 Uhr in Sat.1.