Ganz Deutschland spricht über… Die Phrase kennt man aus RTL-Magazinen oder den einschlägigen Publikationen mit den dummen Buchstaben. Ganz Deutschland! Hört sich toll an, ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit. Ganz Deutschland sind, je nachdem welche Zählung man zu Rate zieht, rund 80 Millionen Menschen, mal mehr, mal weniger. 80 Millionen! Das ist eine Zahl. Wie viele Zuschauer hatte nochmal die letzte „Wetten, dass…?“-Sendung? 6,9 Millionen? Danach stand irgendwo, dass sich ganz Deutschland über Markus Lanz aufgeregt oder gefreut hat. Ich habe den genauen Wortlaut vergessen. Ganz Deutschland? Ich habe da etwas in dieser analytischen Schärfe schier Sensationelles herausgefunden. Achtung! Jetzt kommt’s: 6,9 Millionen sind nicht ganz Deutschland.

Natürlich sind solche Phrasen aus dem vom Superlativ genährten Weltbild des durchschnittlichen Journalisten geboren. Genau dort, wo sich der Journalist befindet, ist der Mittelpunkt der Welt. Das, mit dem er sich gerade befasst, ist das wichtigste Thema der Welt. Die Erkenntnis, die er gerade erfunden hat, gehört als zusätzliches Gebot zu den bekannten zehn addiert. Journalisten wissen immer alles besser, warum also sollten sie nicht mit Fug und Recht behaupten dürfen, dass 6,9 Millionen ganz Deutschland sind.

Ich plädiere in dieser Angelegenheit für ein bisschen weniger Selbstbeschwipsung. Einen Hauch von Demut könnte so manches Thema durchaus vertragen. Ich weiß, dass der Journalist Themen aufblähen muss, um sich im Geschäft zu behaupten. Alte Regel: Wer schreibt, bleibt. Käme er in die Redaktion und behauptete, eine Sendung mit 6,9 Millionen Zuschauern sei nicht zwingend einer Erwähnung wert, bekommt er nur einen kleinen oder gar keinen Platz auf der Seite. Insbesondere freie Journalisten haben sich daher angewöhnt, alles, mit dem sie sich gerade befassen, als superhuperduperwichtig anzupreisen. Man kann das verstehen, denn wenn etwas superhuperduperwichtig ist, dann bekommt es Platz, dann steigt die Bedeutung, dann gibt es mehr Geld.

Natürlich bleibt bei dieser beschränkten Weltsicht außer acht, dass es durchaus noch ein Leben neben dem vom Journalisten als solches wahrgenommenen gibt. 6,9 Millionen Zuschauer für „Wetten, dass…?“ bedeuten schließlich im Umkehrschluss, dass 73,1 Millionen Menschen an einem Samstag etwas Besseres zu tun hatten als Markus Lanz beim öffentlichen Dilettieren zuzuschauen.

Oder nehmen wir nur mal den vergangenen Sonntag, den 5. Januar. Da saßen in der Zeit nach 20:15 Uhr 9,37 Millionen Zuschauer vor dem Frankfurter „Tatort“ mit Joachim Król. Also mehr als bei „Wetten, dass…?“ Ganz Deutschland? Nö. Immerhin waren nebenan im ZDF auch noch 6,39 Millionen Menschen mit der „Pilgerin“ auf Tour, und jeweils rund drei Millionen vergnügten sich mit den X-Men bei ProSieben und mit Navy CIS bei Sat.1. Das sind knapp 22 Millionen. Selbst wenn man die 2,2 Millionen für den RTL-Film dazu rechnet, stehen gut 24 Millionen in der Bilanz. Zählt man noch die Werte von kabel eins, RTL II und Vox hinzu, landet man für die großen Acht unter den Sendern bei etwas über 28 Millionen. Ganz Deutschland? Nö. 

Insgesamt saßen um 20.15 Uhr 37 Millionen Menschen vor der Kiste. Die in der obigen Rechnung also nicht genannten Sender schafften in der Summe respektable neun Millionen, was der Theorie von der zunehmenden Fragmentierung noch einmal Auftrieb verleiht. Ich würde aber gerne noch die 37 Millionen von den 80 Millionen abziehen und mir dann den Rest anschauen. Das sind 43 Millionen Menschen. Die haben am Sonntag, der ein ziemlich fernsehstarker Tag war, etwas anderes gemacht als vor der Glotze zu hocken. Ich bin nicht so verwegen, zu behaupten, diese 43 Millionen wären ganz Deutschland, zumal da wohl auch noch um die drei Millionen unter drei Jahren dabei sein dürften. Aber viele Menschen sind es schon.

Was aber haben diese 43 Millionen, bei denen die Glotze kalt blieb, gemacht? Im Netz gesurft, getwittert, gestrickt, gegessen, geliebt, gestritten, gesoffen, geschlafen? Oder anders gefragt: Was bilden sich diese Gestalten eigentlich ein, sich dem medialen Fernsehangebot zu verweigern? Wer hat ihnen erlaubt, sich zu entziehen und uns Journalisten die schöne ganz-Deutschland-Phrase kaputtzumachen?

Intermezzo. Um noch ein paar Klicks und Kommentare mit angeschlossenem Erregungsdurchfall zu generieren, greife ich nun zu einem ganz miesen Trick und frage, mit welchem Recht denn die Öffentlich-Rechtlichen ihre Gebühren kassieren, wenn doch mehr als die Hälfte gar nichts mehr mit dem Medium anfangen kann. Okay, nein, ich nehme das zurück. War ein ganz mieser Klick-Trick. Ich schäme mich. Ende des Intermezzos.

Aber wo wir gerade beim Absurden sind: Könnte nicht mal jemand eine Fernsehpflicht einführen, die EU vielleicht? Ich meine, was bilden sich diese Menschen ein, sonntagsabends nicht fernzusehen, sich der GfK-Überwachung zu entziehen? Wovon sollen wir Journalisten leben, wenn das so weitergeht? Ach, ich schwafele nur noch herum. Schon jetzt fühlt sich das hier an wie eine durchschnittliche Boulevardsendung im Dritten. Und schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn wir uns mit der Frage befassen, wer eigentlich täglich für uns, die wir nicht 224 Minuten auf den Schirm starren, das Fernsehsoll vollmacht.