Wenn an diesem Sonntag die Leichtathletik-WM in Katar zu Ende geht, dann sind es noch drei Jahre und 15 Tage bis zum ersten Anstoß der Fußball-WM in Katar. Wenn nichts gewaltig schief läuft, wenn also nichts passiert, was die Renditeerwartungen der FIFA und ihrer Korruptionäre enttäuschen könnte, wird Katar sich 2022 als formidabler Ausrichter der WM präsentieren und nach abgeschlossener Kickerei wieder noch ein bisschen mehr als ein salonfähiger Staat dastehen, mit dem man durchaus Geschäfte machen kann, wenn man es sich nicht gerade mit Saudi-Arabien verderben will. 

Für jene, die Katar eher mit Husten als mit einem Unrechtsregime assoziieren: Katar ist ein Staat, in dem niemand außer den Herrschern frei reden kann, in dem Frauen und ausländische Arbeitnehmer massiv unterdrückt und bis zum Tode ausgebeutet werden, in dem Homosexualität unter Strafe steht, in dem Frauen, die eine Vergewaltigung zur Anzeige bringen, wegen „außerehelichen Geschlechtsverkehrs“ verfolgt werden. Um es kurz zu sagen. Katar ist tiefstes Mittelalter, nur eben mit sehr viel Geld.

Dieses viele Geld, das kann man nicht nur erahnen, hat dazu geführt, dass die Fußball-WM nach Katar vergeben wurde und eben auch die nun zu Ende gehende Leichtathletik-WM. Bei Letzterer konnte man wunderbar verfolgen, wie man mit passender PR-Strategie die Kritikfähigkeit von Medien aushebeln kann, wie man die Scheinwerfer geschickt auf Nebenschauplätze lenkt und einfach nur abwartet, bis die allgemeine Sportbesoffenheit wieder Raum greift. Natürlich können sich all die im Folgenden beschriebenen Abläufe auch aus reinem Zufall so ereignet haben, aber wer glaubt schon an Zufälle?

Natürlich gab es auch Vorabberichte, in denen auf die katastrophalen Zustände der Arbeiter und die Menschenrechtsverletzungen in Katar hingewiesen wurde. Die deutsche Medienlandschaft ist breit, und es gibt immer ein paar Hochkaräter, die sich ihrer journalistischen Verantwortung bewusst sind und dies auch während einer monströsen Großveranstaltung bleiben. Die große mediale Masse hat sich indes brav lenken lassen.

Das begann schon mit dem WM-Marathonlauf, bei dem wegen der nächtlichen Hitze reihenweise Athleten kollabierten, bei dem nur ein Bruchteil der Starter auch das Ziel erreichte, bei dem Kamerateams, die das Elend filmen wollten, an der Arbeit gehindert wurden. Prompt gab es die allfällige Empörung. Wie kann man eine WM in solch ein heißes Land vergeben, wie kann man Sportlern so etwas zumuten, wie kann man Kamerateams derart behindern?

Ein Schelm, wer in der Platzierung des strapaziösen Wettbewerbs ganz am Anfang klares Kalkül sieht. Natürlich wusste man in Katar, dass man unter Beobachtung stand, dass massive Kritik zu erwarten war. Nur dumme PR-Strategen hätten solch einer Entwicklung wehrlos entgegengesehen. Kluge PR-Strategen dagegen gaben den Medien etwas zum dosierten Aufregen, eben den Hitze-Marathon, der prompt die Schlagzeilen dominierte. Die WM schien gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte.

Dieser Eindruck setzte sich fort, als sich das Geschehen ins Stadion verlagerte. Dort blieben die meiste Zeit die meisten Sitze leer, von der sonst bei Wettkämpfen dieser Größenordnung gewohnten Stimmung keine Spur. Wieder hatten die Medienvertreter Aufregungsstoff in die heimischen Redaktionen zu liefern. Nicht ganz so dramatischen Stoff wie beim Hitze-Marathon, aber es reichte doch, um die WM schon früh als gescheitert zu erklären und Katar als falschen Ort zu bezeichnen. Nicht wegen der katastrophalen Situation der Menschenrechte, sondern wegen der Hitze und den leeren Sitzen.

Es folgte die Aufregung um die Kameras in den Startblöcken, die den Athletinnen wahlweise in den Schritt oder ins Gesicht filmten oder sie beim Starten behinderten. Niemand hatte nach diesen Kameras gerufen, weshalb sie auch zu recht rasch in Verruf gerieten und eine weitere Aufregungswelle auslösten, die dritte nach Hitze und leeren Sitzen.

Sie könnten natürlich auch Teil einer Strategie gewesen sein, die dafür sorgte, dass sich die auf kritische Berichterstattung geeichten Gemüter der versammelten Sportjournaille erst einmal leerschreiben und leersprechen konnten. Im Grunde ging es darum, die ganze Veranstaltung erst einmal auf Unter-Null-Level herunter zu berichten, auf das sie danach aufsteigen kann wie Phönix aus der Asche.

Als Nebenstrang wurde dann noch das Thema Doping nach Oregon ausgelagert, wo ein suspendierter Trainer Dinge getan haben soll, die nicht rechtens waren, weshalb er pünktlich zur WM suspendiert wurde. Somit war auch dieses Feld besetzt und die dort geerntete Frucht in die Aufregungsspirale eingespeist worden. Skandal Nummer vier.

Kurioserweise funktionieren diese Ablenkungsmanöver immer wieder hervorragend. Gib der Medienmeute etwas, das du auf lange Sicht eh nicht verschweigen kannst, und wenn sie doch an den Kern ran wollen, schmeiß ihnen einen weiteren leckeren Brocken hin, an dem sie zu kauen haben. So etwas beherrscht selbst Donald Trump, der in einem Moment der Bedrängnis plötzlich Grönland kaufen will und damit alle Schlagzeilen an genau diesen Quatsch bindet. Warum sollte so etwas bei der Leichtathletik-WM anders funktionieren?

Wenn man sich ein bisschen auskennt mit der Aufmerksamkeitsökonomie in Redaktionen der Breitenmedien, dann weiß man, dass sich mit vier Skandalen im Abklingbecken die Lust auf Nachschub erheblich mindert. Irgendwann ist halt die heiße Luft raus, winken die Redaktionen daheim ab und fragen: Ging es nicht eigentlich um Sport?

Dann wird bei den meisten Berichterstattern erleichtert in den Wettkampfmodus geschaltet, dann bleiben nur ein paar Hochkaräter von ganz edlen Medien noch wachsam. Der große Rest aber verlegt sich aufs profane Hecheln nach Gold und verengt seine Aufmerksamkeit rasch aufs Nationale.

Was machen die deutschen Athleten? Wie schneidet XY aus Kleinkleckersdorf ab? Wie YZ aus Knatter an der Müritz? Leistungen von Sportlern anderer Nationen werden im Rahmen der Chronistenpflicht abgehandelt, während im Vordergrund vor allem die Frage steht, auf welchem Rang „wir“ Deutschen gelandet sind.

Sportreporter können sich dabei sehr schön und sehr geschmeidig in eine Art nationale Selbstbesoffenheit steigern. Nicht alle, aber sehr viele. Und sie werden dafür reich belohnt. Jene, die an den vergangenen Tagen von der WM übertragen haben, wurden mit ordentlichen Quoten ausgezeichnet, denn das Publikum in seiner schieren Masse ist natürlich sehr leicht zu korrumpieren, wenn man ihm suggeriert, dass man auch mit Bierdose und Fertigpizza auf der abgewetzten Ledercouch noch zum erfolgreichen „Wir“ gehören kann.

Wenn dann noch unerwartet nationales Gold hereinschneit, wie am Donnerstag im Zehnkampf geschehen, wo Niklas Kaul siegte, dann gibt es kein Halten mehr. Dann sind Glutofenhitze, leere Ränge, doofe Startblockkameras und Dopingvorwürfe kein Thema mehr. Und Menschenrechte? Ach, geh weg!

Dann steht plötzlich überall etwas von Sensation. Bild schwärmt vom „König Kaul“, und Spiegel online kürt den „König von Katar“, was in der Google-Suche den eigentlichen Herrscher des Landes weiter nach unten und damit in die Harmlosigkeit des Aufmerksamkeitsabseits schiebt. Zudem erscheint Katar nun in der Erinnerung oft im positiven Alliterationskontext. Man muss da nicht gleich von medialer Kolonialisierung sprechen, aber es wirft natürlich die Frage auf, was so schlimm an einem Land sein kann, in dem ein Deutscher als der wahre König gefeiert wird.

Man muss daher auch nicht lange spekulieren, wie sich 2022 der Vorlauf, der Beginn und der Verlauf der Fußball-WM gestalten werden. Es wird auch dort anfangs ein paar Skandälchen geben, ein bisschen Stoff für den medialen Ejakulationsdrang, und danach werden dann die Heldengeschichten geschmiedet. Nicht in der Wüstenhitze, sondern im mit ordentlich Energieaufwand auf 25 Grad heruntergekühlten Stadion. Greta, steh ihnen bei.