Die Themenfindung ist vermutlich noch am einfachsten. Wo genau setzt daraufhin die Recherche an?

Werning: Zunächst hilft der Blick ins Internet. Man durchforstet Foren und stößt mit der Zeit auf Aussagen, die einen weiterbringen. Das sind teilweise Aussagen, bei denen man sich an den Kopf fasst und sich wundert, dass das in Deutschland überhaupt möglich ist. Ich glaube ja von Haus aus an das Gute und konnte mir zunächst nicht vorstellen, dass Leihmutterschaft auch bei uns ein Thema ist, oder dass mitten unter uns sogar Kinder verkauft werden. Später folgen die persönlichen Gespräche, in meinem Fall mit Paaren, die erzählen, wie sie es gemacht haben, dass ihr illegales Kind in Deutschland legal ist und keiner merkt, dass es von einer Leihmutter stammt. Sie müssen sich das wie ein Schneeballsystem vorstellen. Plötzlich ist man ganz tief drin und stellt fest, wie einfach die Wege sind, in Deutschland ein Kind zu kaufen.

Kuhnigk: Bei mir funktioniert das ganz ähnlich. Man kann ja nicht auf die Straße gehen und fragen: „Entschuldigen Sie, sind Sie pädophil? Ich brauche einen pädophilen Interviewpartner.“ Der erste Weg führt daher in Internet-Foren, um ein Gefühl für das Denken dieser Menschen zu bekommen. Ich habe Männer kennengelernt, die ihre pädophile Neigung zu keinem Zeitpunkt ausgelebt haben, die selbst Kinder haben und auch keine Kinder schädigen. Vor diesen Pädophilen habe ich großen Respekt.

Aber Sie beschäftigen sich ja nicht nur mit dieser Seite.

Kuhnigk: Dennoch sind die meisten pädophilen Männer nicht kriminell. Das darf nicht vergessen werden. An jene Männer, die etwas zu verbergen haben und sich im Schutze der Anonymität des Internets über Missbrauchstipps und Taktiken austauschen, kommt man nur sehr schwer ran. Man muss im Vorfeld darüber nachdenken, welche Sicherungsmechanismen die sich überlegen, um nicht erkannt zu werden, sich gleichzeitig aber auch selbst fragen, wie weit man gehen möchte und darf. Ich hatte bei diesem Thema sehr engen Kontakt zur Staatsanwaltschaft, schon alleine, um mich rechtlich abzusichern. Außerdem war bei den Pädophilen der Faktor Zeit besonders wichtig. Je länger man sich kennt, desto vertrauter wird man im Umgang.

Wie haben Sie das eigentlich Ihrer Frau erklärt? Ich kann mir vorstellen, dass diese Recherchen nicht nur zu normalen Arbeitszeiten stattgefunden haben.

Kuhnigk: Ich habe tatsächlich sehr häufig abends und nachts mit diesen Männern gechattet. Meine Frau und Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Bett. Das war echt anstrengend, weil man sich komplett von seinem richtigen Leben verabschieden muss. Das grenzt zeitweise schon an Schizophrenie. Da braucht es schon sehr viel Verständnis vom Partner. Auch weil man Ruhepausen braucht, um wieder zu sich zurückzufinden – was je nach Länge des Zeitraums für den man eingetaucht ist, nicht immer einfach ist. Denn wenn man in solche Chats geht, gibt man sich ja nicht als investigativer Journalist zu erkennen geben, sondern muss das Gefühl suggerieren, einer von ihnen zu sein. Bei einer Begegnung wollte ich den vorbestraften Pädophilen am liebsten sofort der Polizei übergeben, als er mit dem schwersten Missbrauch eines Fünfjährigen prahlte. Ich habe mich zusammengerissen und an unser Ziel gedacht, nicht nur zu beobachten, sondern auch, wenn möglich, etwas zu bewirken. Nur durch die gute Recherche und den Faktor Zeit war es möglich, als „Frischling“ bereits nach eineinhalb Jahren zu dem Treffen dieses Pädophilen-Kreises eingeladen zu werden.

Kostet dieser Schritt viel Überwindung?

Kuhnigk: Jein. Das tiefe Eintauchen kostet Kraft, ist aber notwendig. Und du darfst nie vergessen, wo du selbst im Leben stehst. Ich hatte das Glück, einen Freund zu haben, der Leitender Oberarzt in einer Psychiatrie ist und mit mir regelmäßig eine Art Supervision gemacht hat. Das Problem solcher Recherchen ist es nämlich, nicht mit Außenstehenden darüber sprechen zu können. Und, es gibt kein Handbuch. Das macht es auf der einen Seite schwierig, auf der anderen Seite aber auch so reizvoll. Man gerät in viele Situationen, die sich nicht planen lassen. Einmal wäre um ein Haar meine versteckte Kamera gefunden worden. Ich habe es gerade noch rechtzeitig geschafft, sie auf der Toilette abzunehmen und zu verstecken, direkt danach wurde ich durchsucht. In solchen Momenten hilft dir niemand. Bei einer Enttarnung wären fünf Minuten vergangen, bis die Polizei da gewesen wäre. Das wären die wahrscheinlich längsten fünf Minuten meines Lebens geworden...

So gesehen macht die Kamera die Recherche umso schwieriger, oder?

Werning: Ich habe Situationen erlebt, in denen ich mich am liebsten wegdrehen wollte, aber letztlich gezwungen habe, hinzuschauen. Wir arbeiten ja nicht fürs Radio oder die Zeitung, sondern wollen die Fälle für das Fernsehen dokumentieren.

Kuhnigk: Bei den „12 Stämmen“ war das ganz ähnlich. Ich bin da mehrfach hingefahren und mir war klar, dass die Technik den Herausforderungen angepasst werden muss. Bei all dem Aufwand den wir für unsere Reportagen betreiben ist eine funktionierende Technik Pflicht und Kür zugleich.

Gab es Momente, in denen Sie gerne schon an die Öffentlichkeit gegangen wären, dies aber schlicht nicht konnten, weil die Ergebnisse noch nicht stichhaltig genug waren?

Werning: Ich bin immer so weit gegangen, bis ich die Ergebnisse hatte, die ich haben wollte. Man geht ja nicht bei jedem Thema zur Staatsanwaltschaft. Manchmal geht es einfach bloß darum, zu erfahren, wie ein System funktioniert und wer die Menschen sind, die sich darin bewegen. Es ist nicht so, dass wir jeden Montag die bösen Buben aufspüren wollen, sondern es sind auch die skurrilen Parallelwelten, die uns interessieren. Es liegt in der Natur des Menschen, herausfinden zu wollen, was in der Nachbarschaft passiert. Dass man immer noch einen Schritt weitergehen kann, steht aber außer Frage.

Kuhnigk: Wir sind keine Strafverfolgungsbehörde und übernehmen auch nicht die Arbeit der Polizei. Unsere Arbeitsweise ist anders. Wenn wir helfen können, umso besser. Das wertet unsere Arbeit auf, weil es zeigt, dass sie eine Relevanz besitzt. Aber am Ende wollen wir in erster Linie unbeschadet aus den Recherchen herauszukommen.

Frau Werning, Herr Kuhnigk, vielen Dank für das Gespräch.