Herr Sonnenburg, die "Super Nanny" ist weg, Peter Zwegat ist derzeit weg – nur Sie kommen mit den "Ausreißern" wieder. Sind Coaching-Formate überhaupt noch zeitgemäß?

Zeitgemäß sind sie in meinen Augen so lange, wie Menschen in Situationen geraten, aus denen sie keinen anderen Ausweg wissen, als sich über die Öffentlichkeit des Fernsehens Hilfe zu holen. Wenn etwa die Jugendhilfe in Deutschland ihren Aufgaben nicht gerecht wird, dann kommen etliche Familien in Situationen, die sie allein nicht mehr beherrschen. Wenn dann ein anderes Angebot da ist, das ihnen individuelle Zuwendung verspricht, dann greifen sie zu. Die Öffentlichkeit ist ihnen in dem Moment egal, weil sie sich an diesen Strohhalm klammern.

Sie kompensieren also im Fernsehen ein Versagen öffentlicher Institutionen?

Ich würde nicht sagen, dass die Jugendhilfe in Deutschland komplett versagt. Aber würde sie flächendeckend so gut arbeiten, wie sie es leider nur stellenweise hinkriegt, dann wäre ein Format wie "Die Ausreißer" hinfällig. Grundsätzlich leistet die Caritas die gleiche Schuldnerberatung wie Herr Zwegat und Jugendämter erfüllen mitunter die gleichen "Wunder" – bewusst in Anführungszeichen gesetzt – wie der TV-Coach Thomas Sonnenburg. Oft genug finden sie aber keinen Zugang zu den Jugendlichen und ihren Familien und lehnen dann notwendige Hilfe ab.

 

Ist Ihre Mission nur die individuelle Hilfe im Einzelfall oder auch das öffentlichkeitswirksame Anprangern solcher Missstände?

Ich trete nicht an, um Jugendämter vorzuführen. Ich möchte vielmehr zeigen, dass man mit individueller Zuwendung – basierend auf einer eingehenden Fallanalyse – Veränderungsprozesse herbeiführen kann, die der gesamten Familie helfen. Eine solche Hilfe muss sich zwangsläufig über einen längeren Zeitraum erstrecken. Wir können das nicht befristen. Der TV-Zuschauer erkennt in 48 Minuten Sendung nicht unbedingt, wie viele Wochen und Monate des Prozesses dahinter stecken. Das ist keine Produktion, bei der man als Coach mal eben für fünf Tage zu einer Familie geht und dann wieder verschwindet. Eine solche Form, die Coaching nur simuliert und die es bei manchen Formaten ja durchaus gab, finde ich nicht mehr zeitgemäß. Mich erreichen die Familien noch Monate und Jahre danach Tag und Nacht.

Aber nur, weil das Ihre persönliche Initiative ist, nicht weil RTL oder die Produktionsfirma ITV Studios das so vorsehen...

Das ist meine Verantwortung und meine moralische Verpflichtung. Wenn ich anfange, mit den Familien zu arbeiten, bekommen sie dieses Pfand von mir in die Hand. Ich gebe ihnen das Versprechen: Ihr könnt euch auf mich verlassen! Und dieses Versprechen halte ich auch, wenn die Kamera aus ist.

"Die Ausreißer" sind als Format nicht nur inhaltlich komplex, sondern auch vom Aufwand her eine Herausforderung für jeden Produktionsprozess.

Man kann bei diesem Format nicht vorab einschätzen, wohin die Reise des jungen Menschen gehen wird. Das macht die Planung und Budgetierung für eine Produktionsfirma wahnsinnig schwer. Für die erste Folge der neuen Staffel hatten wir etwa einen Drehtag am Geburtstag der 16-jährigen Protagonistin Michelle geplant. In der Nacht vor ihrem Geburtstag wurde sie allerdings Zeugin und Beteiligte eines schweren Überfalls. Das hat sie mir erzählt, als ich ihr gerade vor der Kamera ein kleines Geschenk überreichen wollte. Da mussten wir sofort umswitchen in der gesamten Dramaturgie und im Drehplan. Ich musste sie überreden, dass sie zur Polizei geht und sich stellt, um nicht Mittäterin eines versuchten Totschlags zu werden. So läuft ein Drehtag plötzlich ganz anders als geplant und wird extrem lang. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. In einem anderen Fall hat die Familie nach fünf Drehtagen das Ganze abgebrochen, weil sie es sich mit dem Fernsehen doch noch einmal anders überlegt hatte. Da helfen keine Mitwirkendenverträge, da bleibt die Produktionsfirma auf ihrem Investment sitzen. RTL und ITV Studios haben meinen höchsten Respekt, dass sie ein solches Format zulassen und möglich machen.

Was kann denn der Zuschauer auf der Couch, der eine intakte Familie und keine Probleme hat, von Ihnen lernen?

Wir sind mit den neuen Folgen bewusst mehr in die gesellschaftliche Mitte gerückt. Zwei von drei Familien aus dieser Staffel haben ein eigenes Haus. Wir haben gut situierte, fleißige, liebende Eltern. Der Zuschauer auf der Couch kann also nicht mehr sagen: Na, bei den Asis ist doch klar, dass es knallen muss! Ich möchte gerne zeigen, dass es jeden erwischen kann und dass es wichtig ist, nie die Sprache zwischen Eltern und Kindern zu verlieren.

"Ich habe mir in der TV-Branche den Ruf erworben, schwierig zu sein"

Thomas Sonnenburg


Und was haben Sie seit Ihrem TV-Debüt mit den "Ausreißern" 2008 über das Fernsehen gelernt?

Ich weiß inzwischen, wie wichtig es ist, dass man mit weitsichtigen und toleranten Partnern zusammenarbeitet. Das ist die Basis meiner Fernsehkarriere. Ich kann Fernsehen nur machen, wenn ich die Fäden in der Hand halten darf und wenn ich um mich herum ein Team habe, das mich als Fachmann komplett akzeptiert. Ich kann es nicht machen, wenn mir jemand sagt, wie ich Fernsehen machen soll. Dadurch habe ich mir in der TV-Branche den Ruf erworben, schwierig zu sein.

Sie haben in den letzten vier Jahren mehrere ungesendete Piloten für RTL gedreht und mit dem 2012 ausgestrahlten Piloten "Alptraum Mobbing" nicht den erhofften Quotenerfolg erzielt. Hat das bei Ihnen für Frustration gesorgt?

Ich habe nie den Spaß oder die Faszination am Fernsehen verloren. Aber den Quotendruck empfinde ich als traurigste Werteskala der Branche. Natürlich weiß ich, dass ich jetzt nur noch diese Chance habe. Wenn "Die Ausreißer" erfolgreich laufen, sieht RTL vielleicht auch Potenzial für die anderen Formate mit mir, die momentan auf Halde liegen. Mir liegt es sehr am Herzen, an Formaten zu arbeiten, bei denen die Zuschauer nicht gleich sagen: Ist doch eh alles Fake! Formate wie "Schwiegertochter gesucht" mag ich nicht. Aber RTL kann eben zum Glück auch anders. Mit "Alptraum Mobbing" konnte ich zwar keinen medialen Ruhm einsacken, habe aber ehrliche pädagogische Arbeit geleistet. Mit dem Film reise ich nach wie vor durchs Land und setze ihn für meine Fortbildungsangebote an Schulen ein. Und die neuen "Ausreißer" sind so stark geworden, dass ich absolut zuversichtlich bin.

Herr Sonnenburg, herzlichen Dank für das Gespräch.

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