Herr Rausch, das junge WDR-Radio 1Live feiert in diesen Tagen seinen 20. Geburtstag. Sie waren von Anfang an dabei. Wie ist die Idee zu 1Live entstanden?

Mitte der 90er Jahre hatte der WDR im Hörfunk kaum noch junge Hörer. Das Vorläuferprogramm WDR 1 war anders positioniert - man kann 1Live nicht mit diesem Programm vergleichen. WDR 1 hatte viele Einzelsendungen, die teilweise sehr gut waren. Aber aus einer Summe guter Einzelsendungen wird eben noch kein erfolgreiches Programm. WDR 1 war das letzte, das programmiert war wie ein Fernsehsender, das also aus sehr vielen bewussten Brüchen bestand. Es gab beispielsweise eine Hit-Sendung und danach eine Heavy-Metal-Sendung. So hat man schon damals kein Radio mehr gemacht. Hinter dem Start von 1Live stand daher der Gedanke, wie wir uns als gebührenfinanzierter Rundfunk legitimieren wollen bei einem Publikum, das uns noch nie gehört hat.

Im Grunde genommen ein ähnliches Problem, vor dem jetzt das Fernsehen steht.

Unser damaliger Hörfunkdirektor Fritz Pleitgen hat vor 20 Jahren die Zeichen erkannt. Wir konnten es doch nicht zulassen, dass eine ganze Generation ohne die Segnungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufwächst! Fritz Pleitgens Idee war es auch, uns auszulagern. Zu diesem Zeitpunkt war das die absolut richtige Entscheidung.

Wieso war es damals so wichtig, in eigene Räumlichkeiten zu ziehen?

Früher war es im WDR so, dass man das Sendestudio nicht mit der Redaktion zusammengebracht hat. Redaktionen des Hörfunks waren in der Kölner Budengasse und die Studios waren - wie der Name schon sagt - im Funkhaus. Es war also üblich, dass Redakteure mit den Sendeunterlagen durch die Fußgängerzone ins Studio gegangen sind. Ökonomisch betrachtet gar nicht verkehrt, weil man sehr viel Geld sparen kann, indem man nicht in jedes Gebäude Technik baut, aber für die Identifikation mit einem Sender nicht gut. Davon abgesehen war der WDR der letzte Sender in der ARD, der die Wellenstruktur, wie wir sie heute kennen, eingeführt hat.

Woran lag das?

Es brauchte jemanden, der genau diese Frage gestellt hat. Das war dann Fritz Pleitgen, der aus dem Fernsehen kam und ohne Berührungsängste an die Sache ranging. Dadurch hat er unheimlich viel Eis gebrochen. Es wurde damals vieles verändert im Hörfunk, beispielsweise bei WDR 2 und WDR 5, die übrigens in der internen Diskussion mehr Raum eingenommen haben als die Gründung dieses kleinen, jungen Senders 1Live. Das lag daran, dass allen klar war, dass wir etwas für die jungen Leute tun mussten. Das stieß einfach nicht auf Widerstand.

Das ist bei den Veränderungen, die aktuell im WDR-Hörfunk diskutiert werden, anders.

Ich frage mich immer, aus welchem Motiv jemand gegen Veränderungen ist. Geht es darum, dass sich eine persönliche Arbeitssituation verändert oder geht es um inhaltlichen Fragen? Aber solche Diskussionen muss man führen und auch aushalten.

Wie kommt das bei Ihnen an?

Ich bin manchmal sehr verblüfft darüber, dass ausgerechnet Medienleute, die ständig allen sagen, was sie anders machen müssten, in ihrer eigenen Branche eine erhebliche Zurückhaltung aufbringen, was Veränderung angeht. Das ist paradox, ist aber so. Bei 1Live haben wir von Anfang an versucht, ein Klima für eine permanente Veränderungsbereitschaft einzuführen. Viele verstehen Veränderung als Kritik an dem, was sie bisher gemacht haben, doch eigentlich geht es darum, zu sagen: Das, was wir bisher gemacht haben, war für die Vergangenheit okay, aber reicht es noch für die Zukunft?

"Wir sind ja keine Selbsterfüllung, wir sind eine Abteilung des WDR."
Jochen Rausch

Das galt 1995 auch für den neuen jungen Sender, für den bewusst auf den WDR im Namen verzichtet wurde?

Friedrich Nowottny, der zu dieser Zeit Intendant war, war von der Streichung des WDR aus dem Namen, nicht begeistert. Zwar hatte der WDR ein gutes Image, galt aber als erwachsen und seriös. Die jungen Leute trauten dem WDR aber nicht zu, ein Programm zu machen, das ihnen gefällt. Ein Medienforscher sagte uns damals: Wenn ihr euch weiter WDR 1 nennt, dann lauft ihr gegen starke Vorurteile an. Die kann man vielleicht überwinden, aber die Gefahr, dass das nicht gelingt, ist viel größer als es mit einem neuen Namen zu versuchen. Wir, die vom WDR kamen, haben uns damit zugegebenermaßen auch schwer getan. Man fand den WDR ja gut, deshalb war man ja da.

Interessanterweise geht der WDR jetzt den umgekehrten Weg. 1Live ist inzwischen wieder räumlich nah dran am WDR und der Absender soll auch häufiger genannt werden. Wieso die Rolle rückwärts, wo 1Live doch eine derartige Erfolgsgeschichte ist?

Wir sind ja keine Selbsterfüllung, wir sind eine Abteilung des WDR. Insofern finde ich es legitim, die Frage zu stellen, wie wir unserem Publikum die Mutter wieder näherbringen können. Nur der Name alleine reicht eben nicht. Es geht auch darum, dass unser junges Publikum im WDR Angebote findet, die es ansprechen und auf die man verlinken kann. Das tun wir ja auch. Aber im Fernsehen ist es viel schwieriger, junge Leute zu kriegen als mit Radio.

Wieso eigentlich?

Wir haben als wichtigsten Programmbestandteil die Musik. Die wird uns auf dem Silbertablett serviert. Danach geht es darum, aus Musik und Wort ein stringentes, gut anhörbares und vielleicht nicht ganz blödes Programm zu machen. Im Fernsehen haben Sie nichts, was der Musik entspricht, Sie müssen alles selbst erfinden.

Sie haben selbst Fernsehen gemacht mit 1Live. Erfolgreich war das nicht. Woran lag's?

Der tägliche Sendeplatz um 17 Uhr war nicht gut, aber wir hatten auch keine gute programmliche Idee. Der schlimmste Fehler war allerdings, nicht aus den Fehlern gelernt zu haben. Es waren alle deprimiert danach, auch ich. Wir haben ein einziges Mal, und zwar am ersten Sendetag, über fünf Prozent gehabt. Sonst nie wieder. Teilweise erreichten die Sendungen weniger als ein Prozent. Das war ein Desaster. Sie können sich vorstellen, wie die Leute durch die Flure gelaufen sind. Das legte sich wie Mehltau über den ganzen Laden. Dann kam 1999 die Sommerpause für 1Live-TV. Die dauert übrigens immer noch an. (lacht)

Und es gab nie wieder den Gedanken, es noch einmal zu versuchen?

Rückblickend betrachtet haben wir viel Zeit vertan. Aus unserer subjektiven Sicht war es aber eine große Erleichterung, damit aufzuhören. Ich weiß nicht, wie lange diese Redaktion das noch ausgehalten hätte. Wir waren Radioleute - und eigentlich gab es keinen Grund, sich an einem Medium zu versuchen, das wir nicht drauf hatten. Man hätte uns mit Fernsehleuten zusammenbringen müssen, um den Spirit, der in unserem Haus steckt, auf andere Medien zu übertragen.

Ob das der Politik schmeckt?

Das betrifft doch nicht nur 1Live. Das betrifft jedes Medium. Man muss sich von dem Gedanken lösen, dass die Medien, so wie wir sie kennen, für alle Zeiten erhalten bleiben. Als der Westdeutsche Rundfunk angefangen hat, gab es noch gar kein Fernsehen, nur Radio. Es ist also eine natürliche Weiterentwicklung, wenn die Öffentlich-Rechtlichen ihre Angebote über alle wichtigen Wege verbreiten. Es geht doch um den Inhalt, nicht um das Medium.

Also ich habe noch nie die WDR-2-App benutzt, obwohl die im Programm wahrlich oft angepriesen wird.

Für uns ist es wichtig, im Netz vertreten zu sein. Natürlich stellt man sich irgendwann die Frage, ob der betriebene Aufwand in Relation zum Ertrag steht - ein Thema, das wir gerade erst bei unseren Podcasts hatten. Ich kann diejenigen sehr gut verstehen, die den Podcasts hinterhertrauern. Allerdings müssen wir mit dem uns von den Beitragszahlern zur Verfügung gestellten Geld auch ökonomisch wirtschaften und prüfen, ob die Relationen zwischen Aufwand und Nutzen stimmen.