Ich habe einen gewissen Respekt davor, dass Sie an Wahlabenden in aller Regel zu jeder Aussage der Politiker eine passende Umfrage hervorzaubern können. Wie flexibel sind Sie, um in einer Livesendung darauf reagieren zu können?

Mein großer Vorteil liegt darin, dass ich mit meinem Team die meisten Fragen selbst formuliert habe. Ich weiß also, was wir im Köcher haben. Wir haben sehr lange gezögert, einen Touchscreens einzusetzen, als das in Mode kam. Allerdings haben wir ihn im Laufe der Zeit so programmiert, dass ich ihn wie eine Bibliothek nutzen kann. Dadurch ist es möglich, dass ich die passenden Grafiken im On ohne merkbare Verzögerung präsentieren kann. Für mich ist das großartig, denn in meiner Anfangszeit brauchte man rund eine Minute Vorlauf, bis das Grafikteam die entsprechende Umfrage vorlegen konnte. Und wenn sie dann vorlag, war das besprochene Thema oft längst wieder ein anderes. Insofern ist das heute Teil des Sports. Es macht mir Spaß, schnell reagieren zu können. 

Wie oft haben Sie den Touchscreen schon verteufelt? 

Natürlich gab es in der Anfangszeit den einen oder anderen Absturz, aber die Technik ist längst aus den Kinderschuhen heraus. In den letzten Jahren habe ich den Touchscreen nicht mehr verteufelt. Ich habe jedoch damit gehadert, immer selbst im Bild zu sein, weil ich glaube, dass es den Zuschauern dadurch erschwert wird, Grafiken zu erfassen. Aus diesem Grund machen wir Prognosen und Hochrechnungen stets im Vollbild, weil sie so wichtig sind, dass ich nicht vor ihnen herumtanzen möchte. Ansonsten habe ich auch deshalb meinen Frieden damit gemacht, weil wir versucht haben, die Grafiken zu reduzieren und vereinfachen. Und ich habe verstanden, dass es für die Zuschauer durchaus hilfreich sein kann, wenn ich zeige und deute. Wenn heute Fehler passieren, dann sind es meist meine eigenen – und nicht die des Touchscreens.

Was war die schwierigste Situation an einem Wahlabend, an die sich erinnern können?

Ich erinnere mich an einen Stromausfall im Wahlstudio in Erfurt um acht Minuten vor 18 Uhr. Da war es nicht damit getan, die Sicherung reinzudrücken und den Computer wieder zu starten. Erst in der Anmoderation der Prognose habe ich damals das Signal bekommen, dass die Grafik steht. Das möchte ich nicht noch einmal erleben.

Erlauben Sie mir eine persönliche Frage: Wie halten Sie die Spannung aufrecht, wenn Sie an Wahlabenden bis in die Nacht hinein vor der Kamera stehen und am nächsten Morgen direkt weitermachen?

Das ist Adrenalin. Mir macht das ja Spaß. Das Schwierigste sind Phasen, in denen es nichts zu senden gibt, so wie das in der Vergangenheit zwischen Morgen- und Mittagsmagazin der Fall gewesen ist. Ansonsten läuft der Motor fast automatisch. Schlafen kann man nachher. (lacht)

"Natürlich bildet die Einschaltquote ein Stück weit die politische Realität ab."
Jörg Schönenborn

Worin sehen Sie die Herausforderungen bei der bevorstehenden Europawahl?

Bei der Europawahl haben wir zum ersten Mal die Situation, dass sich das deutsche Publikum mehr dafür interessiert, was in anderen Ländern herauskommt, als wer in Deutschland bei 15 oder 20 Prozent liegt. Das darzustellen, ist die eigentliche Herausforderung, weil die europäische Parteienlandschaft wahnsinnig kompliziert ist, schließlich bedeuten Parteienfamilien nicht automatisch, dass die Parteien auch dieselben Ziele verfolgen.

Schmerzt es Sie, wenn Sie sehen, dass ganz viele Sendungen im Vorfeld der Europawahl nicht mal zwei Millionen Zuschauer erreichen?

Natürlich wünsche ich mir für unsere Sendungen mehr Publikum, aber es gibt einen realen Grund dafür. Wir haben eine noch nicht vollständig entwickelte Demokratie in Europa. Ich bin als Wähler mit meiner Stimme bei der Europawahl längst nicht so mündig wie bei der Bundestagswahl, denn ich weiß beispielsweise gar nicht, ob ich mit meiner Stimme wirklich über den Spitzenkandidaten entscheide. Ich halte die Zuschauer und Wähler für sehr vernünftig – und die spüren, dass die Hauptentscheidungen nicht von Herrn Timmermanns oder Herrn Weber getroffen werden. Deshalb kann man es auch umgekehrt sehen: Wenn sich zwei Millionen Menschen dafür interessieren, ist es schön, dass es so viele politische Feinschmecker gibt.

Hätte die EU mehr zu sagen, würden die Quoten steigen?

Natürlich bildet die Einschaltquote ein Stück weit die politische Realität ab. Die europäische Demokratie ist halbfertig und man sollte nicht so tun, als sei das Europäische Parlament so souverän wie es der Deutsche Bundestag ist. Das ist Demokratie auf dem Weg. Davon abgesehen – und das ist jetzt meine persönliche Meinung – ist es doch toll, dass die Zustimmung zu Europa trotz dieses unfertigen europäischen Systems so groß ist. Wir tun oft so, als stünde Europa vor der Abwicklung. In Wahrheit haben wir europaweit ein 35-Jahres-Hoch, was die Zustimmung zu Europa angeht.

Herr Schönenborn, vielen Dank für das Gespräch.