Herr Graf, Sie haben im Februar die Führung von RTL übernommen und schon im ersten Halbjahr wurde spürbar: RTL hat offenbar Lust auf Experimente mit diversen Sondersendungen zu aktuellen Themen…

Wir haben begonnen, uns auf unsere Stärken zu besinnen. In den vergangenen Jahren wurden die Streamingdienste in Deutschland oft als Bedrohungsszenario für das lineare Fernsehen formuliert. Die neuen Anbieter haben eine über lange Zeit gefestigte Wettbewerbssituation sicherlich erstmal gut durchgeschüttelt. Das löste Überlegungen aus, wie man darauf reagiert. Viele Produzentinnen und Produzenten sind mit Ideen zu uns gekommen, die das kopieren wollten. Stichwort: "Ihr müsst jetzt auch Euer 'House of Cards' machen." Meine Haltung ist: Aktualität im Programm und Live-Fernsehen, mit dem ich gleichzeitig auf den Punkt sehr viele Menschen erreiche. Das ist eine Riesen-Stärke des Broadcasting und es liegt nahe, wenn man mehr als 700 Journalisten im Haus hat, die Kompetenz auch stärker zu nutzen. Was Sie als neue Lust beschreiben, ist viel mehr die Erkenntnis: Wir haben Power. 



Die Voraussetzungen hatte RTL aber ja schon immer. Welcher Knoten ist geplatzt? Bislang galt linearen Sendern das Programmschema als heilig.

Mit dem Themenabend zum Tod von Niki Lauda fing es an, das war während der LA Screenings. Wir haben danach mehrfach aktuelle Sondersendungen ins Programm genommen und es hat funktioniert. Wir haben in der Tat einfach keine Furcht mehr, die im linearen Fernsehen traditionell sehr manifestierten Line-Ups aufzubrechen. Es scheint erstmal kontraproduktiv, diese Verlässlichkeit ein Stück weit aufzubrechen. Möglicherweise gibt es auch Kollateralschäden, aber wir haben das eine höher bewertet als das andere und möchten in dem Bereich auch noch viel mehr machen. Wenn es ein aktuelles Thema gibt, über das Deutschland spricht, dann sollte die Debatte bei RTL stattfinden.

Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, für was RTL sein Programm unterbricht oder aufschiebt?

Das ist immer eine schwierige Abwägungssache, aber in solchen Fällen werden wir künftig sicher häufiger das geplante Programm ändern, wenn wir zu den jeweiligen Themen auch etwas zu erzählen haben. Verlässlichkeit ist ein hohes Gut, aber sich Dinge zu verbieten, weil man damit das vor Wochen geplante Programmschema durchbrechen würde, ist verkehrt. Wir haben die Reaktionsstruktur bei Infonetwork so verändert und uns entsprechend vernetzt, dass sichergestellt ist, noch besser und schneller 24/7 Sondersendungen fahren zu können. Hinter jeder Programmänderung steckt ja ein Rattenschwanz an organisatorischen Aufgaben, bis zur Versetzung von Werbeinseln.

Journalisten befinden sicher mehr Themen für wichtig als der Geschäftsführer des Senders. Wie muss man sich die Entscheidungsfindung vorstellen, beispielsweise beim Tod von Niki Lauda?

Daran kann ich mich sehr genau erinnern, weil ich bei einem MGM-Empfang war, als ich die Nachricht vom Tode Niki Laudas bekam. Ich habe dann sofort darum gebeten, die Sondersendung ins Programm zu nehmen. Trotz neun Stunden Zeitverschiebung haben wir das telefonisch von Los Angeles aus nach Köln übermittelt und es wurde umgesetzt. Da hilft uns natürlich, dass unser Haus rund um die Uhr besetzt ist. Wenn die Kolleginnen und Kollegen des "Nachtjournals" nach Hause gehen, fängt der Frühdienst schon wieder an. Die letztendlichen operativen Entscheidungsträger sind unser Chefredakteur Michael Wulf, unser Programmplaner Jan-Peter Lacher und ich.

Der spontan ins Programm genommene Themenabend zu Niki Lauda lief gut - obwohl er in keiner Programmzeitschrift oder Tageszeitung angekündigt war. Was lehrt einen das über das Zuschauerverhalten? Dass man viel häufiger einfach mal mit seinem Sender machen kann, was man für richtig hält?

Ja, also ich nehme das mal so mit. In der Tat war das Teil des Learnings der vergangenen Monate. Wir haben zum Beispiel am Nachmittag ein Special ins Programm genommen und keiner wusste davon. Die Leute müssen also beim Zappen hängen geblieben sein. Das ist eine wahnsinnig spannende Erkenntnis: Mag es auch stimmen, dass es eine gewisse Politikverdrossenheit gibt, so interessieren sich die Menschen sehr wohl für das, was gesellschaftlich relevant ist. Das macht natürlich Mut, so etwas häufiger zu machen, denn man fragt sich natürlich wie das Publikum reagiert, wenn man da wie Kai aus der Kiste mit einem anderen Programm on air ist als erwartet. Unsere über den Tag verteilten Magazine helfen natürlich als Promotionsfläche für solche Programmänderungen. Aber Sie sprechen da einen insgesamt sehr wichtigen Punkt an, weil wir uns auch bei den klassischen und geplanten Programmstarts viel genauer überlegen müssen, wie wir das potentielle Publikum dafür interessieren. Marketing und Kommunikation müssen wir ein Stück weit neu erfinden.

Sie wollen häufiger überraschen. Gilt das auch für die Findung neuer Programme?

Ich will mich nicht allein auf Recommendation-Engines und Big Data verlassen und wünsche mir für unseren Sender, dass wir neue Programmentscheidungen nicht allein aus der Performance gelaufener Sendungen ableiten, weil das dann oft rückwärtsgewandte Absicherung ist. Ja, wir haben die erfolgreichsten Castingshows, mit "Let’s Dance" die tollste Tanzshow, wir haben "Bauer sucht Frau" und "Wer wird Millionär". Die klassische Fernsehtradition wäre jetzt: Mehr davon zu machen. Ich sage aber: Lasst uns anders denken. Lasst uns die zehn absoluten No-Gos aufschreiben - also was man im TV auf keinen Fall machen darf - und aus der Situation heraus überlegen wir, was denn der nächste Kracher sein könnte. Ein richtiger neuer Hit ist nur der Überraschungshit, also ein Format, von dem man es vorher nicht erwartet hätte. Das hatten wir vor einigen Jahren zum Beispiel mit "Ninja Warrior Germany".

Diesen Sommer war "The Masked Singer" ein solcher Überraschungsshit. Können Sie dem - angesichts der Vorgeschichte - etwas Positives abgewinnen?

Ich sag‘ mal so: Wir haben das überdurchschnittliche Potential des Formats selbst erkannt und uns bemüht, es für die Gruppe zu erwerben. Wir freuen uns dafür über die aktuelle Erfolgswelle der Reality-Formate, wo wir mit unserem Guilty Pleasure "Das Sommerhaus der Stars" in diesem Jahr sehr zufrieden sind.