Es gibt aber doch inzwischen auch Ausbildungen für non-fiktionales Fernsehen.

Christiane Ruff: Ja, die ifs in Köln will jetzt auch einen Entertainment-Zweig einführen. Was wir vor allen Dingen brauchen ist Nachwuchs bei Show-Producern und Cuttern, die Reality verstehen und machen können. Es geht auch nicht um dreijährige Ausbildungen, das muss schneller und praxisorientierter gehen. Also haben wir Produzenten uns jetzt zusammengetan, wir kooperieren auch schon sehr gut und leihen uns gegenseitig Kolleginnen und Kollegen aus. Die Not ist wirklich groß angesichts der Explosion dieses Genres. Wir denken auch selbst um und werden nächstes Jahr zusätzliche neue Nachwuchs Kolleginnen und Kollegen in bestehende Produktionen schicken, damit sie lernen können, weil wir jetzt schon wissen: Die Situation wird nächstes Jahr nicht einfacher, weil noch mehr Reality kommen wird.

Shona Fraser: Es gibt aber nicht nur zu teuer, es gibt auch zu billig. Bei größeren Firmen wie ITV Studios weiß man: Gute Reality hat einen gewissen Stundenpreis. Die seriösen Anbieter im Markt bieten alle zu einem einen ähnlichen Stundenpreis. Es gibt andere Anbieter, die versuchen deutlich günstiger zu sein, um einen Auftrag zu bekommen. Wir haben einmal so etwas Günstiges bestellt und ich muss nachträglich sagen: Das war ein Fehler. Wenn mir heute einer mit einem Schnäppchen daher kommt, dann weiß ich: Das wird nix, weil es einfach nicht machbar ist. Ja, Reality ist günstiger als fiktionale Projekte, aber im mehrfachen Sinn billige Produktionen machen hier wie dort keinen Sinn.

Christiane Ruff: Da muss man doch mal ehrlich sein. Reality ist in jedem Fall günstiger als fiktionale Projekte, funktioniert aktuell beim Zuschauer deutlich besser und generiert weit mehr Social Buzz. Also als Sender wüsste ich, wo ich gerade mein Geld investieren würde.

"Über die Arroganz des Bildungsbürgertums könnte ich mich stundenlang aufregen."
Shona Fraser über die Wahrnehmung von Realityshows

Und trotzdem haftet dem Genre ein Ruf an, der RTL II ja auch nicht unbekannt ist.

Shona Fraser: Das ist so deutsch! Ein Beispiel. Meine Tochter ist in München auf der britischen Schule und ich habe ihre Lehrerin, eine Engländerin, kürzlich darüber informiert, dass ich jetzt mal fünf Wochen auf Dreh sein werde, damit sie vielleicht nochmal ein besonderes Auge auf meine Tochter hat. Da fragte mich die Lehrerin, ob sie fragen dürfte, was wir denn produzieren und ich sagte „Love Island“. Da war sie ganz aufgeregt und interessiert, stellte lauter Fragen. Wenn meine Tochter auf einer deutschen Grundschule wäre, hätte ich sicher eine ganz andere Reaktion bekommen. Vielleicht hätte ich gar nicht gesagt, dass ich „Love Island“ mache.

Christiane Ruff: Du hättest wahrscheinlich das Alibi aller benutzt und behauptet, Du machst eine Arte-Dokumentation über die Schönheit Mallorcas (lacht).

Shona Fraser: Neulich habe ich einen Artikel einer Autorin im Lufthansa-Magazin gelesen, die Reality-Fernsehen unterstellt hat, eine „Belastung für die Seele“ zu sein. Da könnte ich mich aufregen. Es sind hier viele kreative Leute am Werk, das Fernsehen ist eine Kreativindustrie und beschäftigt in Deutschland zehntausende Menschen. Und wir unterhalten damit ein Massenpublikum. Über die Arroganz des Bildungsbürgertums könnte ich mich stundenlang aufregen.

Christiane Ruff: Ich könnte mich auch sehr darüber aufregen, dass ganz Deutschland seit Jahren mit Freude Reality-Formate schaut und sich alle darüber unterhalten, aber wir bei den Auszeichnungen der Branche nie auftauchen. Das wird einfach nicht als Handwerk gewertschätzt. Und da möchte ich mal der Branche sagen: In Großbritannien hat „Love Island“ einen Preis gewonnen, und zwar den ehrwürdigen BAFTA. Warum? Weil es dort die Kategorie „Reality and Constructed Factual“ gibt.

Alexander Krei, Christiane Ruff, Thomas Lückerath, Shona Fraser

Wenige Stunden nach dem Gespräch mit den beiden Macherinnen zogen die Kandidatinnen und Kandidaten in die Villa. (Foto: Magdalena Possert)

Ist der Boom der Reality-Formate die Gegenbewegung zum Serien-Boom zuvor?

Shona Fraser: Ja. Sehen Sie, wir haben eine deutsche Branche, die gefährdet ist durch eine Vielzahl neuer aber internationaler Anbieter, die zum weit überwiegenden Teil nicht bei uns produzieren. Die bringen keine Arbeitsplätze und fördern keinen Nachwuchs. Wenn ich jetzt beim Publikum mit jungen Leuten spreche, dann sind die für die ganz aufregenden Serien bei Netflix, Amazon und Co. Aber Reality, das gucken sie sehr gerne bei uns, weil wir das lokal besser können. Die vermeintlich ganz große Liebe, noch größeres Drama, Missgeschicke und immer wieder unerwartete Wendungen. Das ist Shakespeare. Das ist zeitgemäßes Fernsehen, das aber von einer älteren Generation verdammt wird, ohne dass sie es genau kennen.

Jetzt haben Sie auf Großbritannien verwiesen, weil „Love Island“ dort so ein Erfolg ist und sogar einen Preis gewonnen hat. Die Kehrseite des Vergleichs ist aber: Dort haben zwei Kandidaten nach der Sendung Selbstmord begangen.

Shona Fraser: Wir nehmen unsere Pflichten deswegen sehr ernst.

Christiane Ruff: Darüber haben wir ja auch schon mal gesprochen, was für ein positives Echo bei Produzentenkollegen und Sendern sorgte. Ja, wir nehmen das sehr ernst. Ein sehr gründlicher Kandidatencheck im Vorfeld, auf Wunsch therapeutische Beratung für Kandidaten und das Team, pro-aktiv eine Beobachtung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Casting bis zur Produktion, wo ein Kollege im Zweifel auch von sich aus Alarm schlägt. Wir wollen damit ein möglichst vielschichtiges Sicherheitsnetz bauen.

Shona Fraser: Wir haben deswegen tatsächlich schon einen Kandidaten aussortiert. Es geht nicht gleich immer darum, ob jemand suizidal ist, aber ob er psychisch in der Lage, mit den Reaktionen auf sein Handeln vor der Kamera umzugehen.

Aber lebt das Genre nicht gerade davon, dass manche Kandidatinnen oder Kandidaten übers Ziel hinausschießen? Ist das dann nicht gerade das Reality-TV-Gold wonach Sie suchen?

Shona Fraser: Bei „Love Island“ nicht. Klar, extrovertierte Persönlichkeiten wollen wir. Da sprachen wir ja auch schon darüber. Aber wir machen die Sendungen ja mit unserem Cast. Wir nehmen uns viel Zeit um dem Cast zu erklären, was wir machen. Wir stehen ja auch im Austausch, jeder von denen ihnen hat einen Ansprechpartner im Team. Sie sind ja nicht abgeschirmt oder haben keinerlei Kontakt mit uns. Es gibt die Villa-Producer. Die steuern nicht was passiert, aber sind Ansprechpartner für die Kandidatinnen und Kandidaten. Die üblen Zeiten sind vorbei, in denen man mit allen Tricks versucht hat, Protagonisten dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen.

Jetzt ist das Format in Deutschland ja auch schon gut bekannt. Wie geht man damit um, dass die Kandidaten der dritten Staffel jetzt zu wissen glauben, wie sie die Sendung für sich bestmöglich nutzen können? Das hat bei anderen Formaten ja schon für Langeweile gesorgt.

Shona Fraser: Wenn unsere Kandidatinnen und Kandidaten glauben, aufgrund unserer letzten Staffel oder der britischen Staffel, zu wissen was passiert, dann werden sie genauso wie das Publikum überrascht. Und ganz ehrlich: Selbst wir wissen ja noch nicht, was passiert. Das macht „Love Island“ so aufregend. Und im Cast haben wir diesmal zum Beispiel einen Astrophysiker! Ein Astrophysiker bei RTL II - das gab es auch noch nicht so oft! Ein Naturwissenschaftler bei „Love Island“. Da kann sogar das Bildungsbürgertum zugucken.

Eine Nachfrage noch: Ein zweites "Love Island" im Winter, wie bei ITV - wäre das eine Option für RTL II ?

Shona Fraser: Wir lieben Love Island. Also: „Expect the Unexpected!“ (lacht)

Gut, dann müssen wir die Antwort jetzt erstmal so hinnehmen. Frau Fraser, Frau Ruff, herzlichen Dank für das Gespräch.