Sie haben sich in der vergangenen Woche bei Ihrem Besuch in München mit zahlreichen deutschen Produzenten getroffen. Wie liefen die Gespräche?

James Farrell: Sehr gut, es gibt eine Menge Neugier im deutschen Markt und die Bereitschaft mit Amazon Studios zu arbeiten.

Fühlen Sie sich mit Amazon Prime Video verstanden von den Produzenten?

James Farrell: Nun, ich kann nicht sagen, dass es falsche Erwartugen gab. Es gab eine gesunde Neugier. Wonach suchen wir? In Japan machen wir „The Bachelor“, in Italien machen wir „Celebrity Hunted“ und in Indien große Drama-Serien. Da ist es verständlich, dass man sich fragt: Sollen wir jetzt eine SciFi-Serie pitchen? Oder doch diese Krimiserie? Oder ein Realityformat? Miteinander zu sprechen, hilft beiden Seiten dabei, unnötig Zeit zu verschwenden.

Was sollten Produzenten oder Autoren Ihnen nun pitchen?

James Farrell: Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Was für Deutschland gilt, muss nicht für Lateinamerika oder Indien gelten und umgekehrt. Wir suchen am liebsten nach den Lücken im Markt, die die anderen unbesetzt lassen. In Japan beispielsweise gibt es eine Menge schräger Gameshows, aber keine hochwertig umgesetzten Reality-Formate. Wir wollen gegen den Strich bürsten. Wenn die Sender in Deutschland sehr gute Realityshows produzieren aber niemand, sagen wir, eine Horror-, SciFi- oder Action-Serie macht, dann ist das der andere Weg den wir gehen wollen, weil wir davon überzeugt sind, dass die Menschen Vielfalt und Auswahl suchen und wenn niemand ein Genre besetzt, ist das eine großartige Gelegenheit für uns, das Feld zu besetzen.

Budget oder aber der Zulauf von interessierten Partnern scheint für Sie weniger problematisch. Worin besteht dann aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung bei der Umsetzung neuer Produktionen?

James Farrell: Die größte Herausforderung einer jeden Produktion liegt in der Aufgabe, dass das Endprodukt in der Qualität den anfangs formulierten Ambitionen entspricht. Es ist derzeit eine großartige Zeit für Autorinnen und Autoren. Ihnen hören heute so viele Menschen zu wie nie zuvor. Aber eine gute Idee ist noch keine gute Produktion. Wer bisher nur Filme oder kleinere Produktionen gedreht hat, dem fehlt möglicherweise die Erfahrung aus einer guten Idee auch eine ganze Staffel oder mehr zu machen. Heute hängt es nicht am Budget, eine Idee zu realisieren, sondern an der Umsetzung. Wir haben im vergangenen Jahr personell deutlich aufgestockt um genau dabei zu helfen. Manche Skripts brauchen sechs bis zwölf Monate bevor man in die Produktion gehen kann.

Philip Pratt© Amazon
Philip Pratt (Foto): Als ich 2006 die Filmschule abgeschlossen habe, waren die Aussichten noch nicht so vielfältig wie heute. Damals ist man dann bei „GZSZ“, den „SOKOs“ oder dem „Bergdoktor“ gelandet, wenn man arbeiten wollte. Heute sind die Möglichkeiten vielfältiger weil es viel mehr Anlaufstellen gibt, die einem zuhören. Und wir haben zum Beispiel Action-Serien in der Entwicklung, sogar Fantasy-Stoffe. Zu wem wären sie damit vor 10 oder 15 Jahren gegangen?

Anfangs wurden Streamingdienste mit Highend-Serien gleichgesetzt. Jetzt hat Amazon Prime Video in Deutschland eine Sport-Doku mit Borussia Dortmund und ein Comedy-Format mit Chris Tall umgesetzt. Wird Non-Fiktionales wichtiger?

James Farrell: Highend-Fiction bleibt groß im Fokus unserer Arbeit. Ein Großteil unserer Gespräche in der vergangenen Woche drehte sich um neue Serien, weil es in Deutschland einige großartige Autoren, Regisseur und Schauspieler gibt, deren Ideen nicht zu linearen Sendern passen. Sie passen nicht in die standardisierten Vorgaben der Welt des werbefinanzierten Fernsehen und vielleicht auch nicht in die Strategie anderer Streamingdienste, die sofort global denken. Wir suchen nach deutschen Ideen, die sich bislang aber niemand getraut hat, auszuformulieren weil sie zu groß, zu wild oder zu anders waren.

Aber wie passen non-fiktionale Produktionen in diese Strategie?

James Farrell: Serien bleiben unser Fokus, aber wir wissen, dass die Kunden mehr wollen als Serien. Manchmal will man einfach schnelle und leichte Unterhaltung und kein großes Drama. Es ist für uns keine Option zu sagen „Kommt doch für die Serien, für den Rest gibt es andere Angebote.“ Wir wollen unsere Kunden alle Genres bieten. Also schauen wir auch nach non-fiktionalen Formaten.

Erklären Sie bitte mal Ihre Position zum Thema lokal vs. global. „Chris Tall presents“ wird international sicher nicht so gefragt sein wie möglicherweise die Serien-Adaption von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Gibt es zwei Arten von lokalen Amazon-Produktionen?

James Farrell: Sie sprechen einen interessanten Aspekt an, den ich auch bei den Medientagen München mit ihrem Kollegen Torsten Zarges thematisiert habe. Als wir „Marvelous Mrs. Maisel“ gemacht haben, über StandUp-Comedy im New York der 50er Jahre, hätten wir nicht gedacht, dass das ein internationaler Erfolg werden würde. Aber es ist heute die am meisten illegal geschaute Serie in China. Die Serie war nicht international gedacht wie zum Beispiel „Jack Ryan“. Wir sehen es auch mit unseren Eigenproduktionen in Indien und Lateinamerika. Sie wecken die Neugier von Serienfans weil sie sich und ihren Heimatmärkten treu und damit einzigartig sind. Das ist kein Europudding wie manche früher mal ausgedachte internationale Koproduktion. Das sind sehr spezifische Produktionen für ihre Heimatmärkte. Damit ist das Problem gelöst, einen globalen Hit planen zu müssen. Wir machen lokale Produktionen, die dann schon reisen werden. Aber ich verstehe den Aspekt den sie mit „Chris Tall presents“ ansprechen: Da geht es ums Non-Fiktionale. Da bin ich ganz bei Ihnen: Diese machen wir nicht, weil wir eine signfikante Performance außerhalb der Heimatmärkte erwarten. Solange Millionen von Menschen in einem Land es lieben, haben wir genügend Menschen glücklich gemacht.

Welche International Originals für die Sie bei Amazon Studios verantwortlich sind, waren denn zuletzt ihre wichtigsten Produktionen?

James Farrell: In Indien haben wir gerade „The Family Man“ gelauncht, Anfang des Jahres kam schon „Made in Heaven“, das auch außerhalb Indiens viele Fans gefunden hat. Von den zehn Produktionen, die wir bislang in Indien gemacht haben, sind es übrigens nicht unbedingt die, die in Indien besonders stark waren, die dann auch international gut gelaufen sind. Das war auch eine interessante Lernkurve für uns. Es gibt einen unterschiedlichen Geschmack zwischen dem indischen Publikum, den Indern in aller Welt und jenen, die sich für indische Geschichten interessieren. In Lateinamerika haben wir „The Game of Keys“ aus Mexiko, erzählt mit dem Tempo einer Telenovela allerdings in einer 10-teiligen halbstündigen Serie. Ursprünglich aus Japan stammt „LOL: Last One Laughing“ mit zehn Comedians die sich gegenseitig versuchen zum Lachen zu bringen. Der letzte, der nicht lacht, gewinnt. Das haben wir auch in Mexiko adaptiert, machen es jetzt mit Rebel Wilson als Host auch in Australien. Es ist interessant zu sehen, was in welchen Märkten funktioniert und wenn man ein funktionierendes Format hat, das dann in weiteren Märkten auszuprobieren. Es ist schwer erst einmal einen solchen Hit zu finden, also versuchen wir diese zu reproduzieren.

Gutes Stichwort. Bei Serien fällt es einfacher, aufgrund von Genre oder Budget eine Produktion zwischen werbefinanzierten Sendern und Streamingdiensten zu unterscheiden. Wie muss sich denn non-fiktionale Unterhaltung abheben von dem was die Sender schon bieten, damit sie zu Amazon passt?

James Farrell: Das kann ich so gar nicht beantworten. Es wäre zu kurz gedacht zu sagen: Oh, alles was fürs werbefinanzierte Fernsehen zu gewagt ist. Oder alles, was den Sendern zu teuer ist. Das lässt sich bei Non-Fiktionalem schwieriger definieren als bei Serien. Für Japan war „Der Bachelor“ die richtige Antwort, weil es das dort vorher auf den Sendern nicht gab. Im deutschen Markt wäre das nicht passend.

Mit wie vielen deutschen Amazon Originals pro Jahr kann man denn in Zukunft rechnen? Zieht die Taktung nochmal an?

James Farrell: Es würde nicht reichen so viel zu machen wie bisher, wenn wir unsere Kunden in Deutschland zufriedenstellen wollen. Das reicht nicht, um ein Markenversprechen zu etablieren und Kunden zu binden. Wir werden investieren und wollen uns auf sechs bis zwölf Neustarts deutscher Produktionen bei Prime Video pro Jahr steigern.

Sind dabei auch Koproduktionen mit deutschen Sendern denkbar oder wollen Sie Ihre deutschen Produktionen lieber exklusiv?

Philip Pratt: Wir sind offen für alles und haben in anderen Märkten, etwa Großbritannien, schon verschiedene Modelle der Koproduktion realisiert. Wir wollen Geschichten erzählen und wenn eine Zusammenarbeit uns dabei helfen kann, eine Geschichte zu erzählen, schließen wir das nicht grundsätzlich aus.

Sind Ihnen Geschichten mit möglicherweise fünf Staffeln lieber oder eher Miniserien?

James Farrell: (lacht) Wenn ich bei einem Skript bloß schon die Garantie hätte, dass sich daraus fünf Staffeln ergeben würden, würde ich mich immer dafür entscheiden. Aber das weiß man am Anfang ja selten. Es gibt aber auch zunehmend den Wunsch einer Geschichte zu folgen, die eben nicht erst in fünf Jahren zu einem Ende kommt. Die unbefriedigende Antwort auf Ihre Frage ist also: Ich mag beides.

Ich habe es geahnt…

James Farrell: Gut, also müsste ich mich jetzt entscheiden, dann vielleicht eher für eine Story, die wir über Jahre erzählen können.

Sich auf neue Serien einzulassen bedeutet sich festzulegen und Stunden zu investieren.  Teilen Sie die Ansicht, dass es auch einen neuen Trend hin zu kürzeren Formaten bzw. Staffeln gibt?

James Farrell: Ich glaube Sie haben da durchaus Recht mit dem Trend: Es gibt eine steigende Nachfrage nach kürzeren Inhalte. Wir sind in der glücklichen Situation, dass Amazon so kundenorientiert denkt und frühzeitig Wünsche und Entwicklungen erkennen kann. Nehmen Sie Serien wie „Fleabag“ oder gerade „Modern Love“ mit abgeschlossenen Episoden. Da haben Sie kürzere Folgen, kürzere Staffeln.

Leichtere Stoffe wären auch Sitcoms. Die finden sich noch relativ selten in den LineUps von Streamingdiensten, dabei sind es diese Serien die mehr als einmal geschaut werden. Drama-Serien werden selten mehrfach geschaut…

Philip Pratt: Wir haben in Deutschland  mehrere Sitcoms bzw. Comedy-Serien in der Entwicklung, aber Humor ist ein schwieriges Feld. Eine spannende Serie wird eher von allen als spannend wahrgenommen als eine Comedy von allen als lustig empfunden wird. Humor ist sehr subjektiv. Multicam-Sitcoms haben es dann besonders schwer weil deutscher Humor eher szenischer Humor ist, mit sich entwickelnden Charakteren wie z.B. „Pastewka“, als die schnelle Aufeinanderfolge von Punchlines.

Zu kürzeren Formaten gehört auch der gute alte Film, der in Deutschland ja als TV-Movie eine Tradition hat wie in kaum einem anderen Markt der Welt. Spielen Filme für Amazon Prime Video eine Rolle?

Philip Pratt: Wir suchen nach Filmstoffen und haben schon die Gespräche mit vielen Produzenten, Autoren und Regisseuren gesucht. Wir suchen gezielt nach Direct-to-Service-Filmen, die ich gerne vergleiche mit dem was die Sender als Event-Filme kennen. Da braucht es entweder einen großen Star, der ein Projekt trägt, eine besonders attraktive IP die wir neu auflegen können oder eine besondere Visualitiät, die die Produktion abheben würde vom Rest.

Wie ist Ihre Haltung zur Veröffentlichung neuer Produktionen: Neue Wettbewerber von Ihnen veröffentlichen wöchentlich. Sie bleiben mehrheitlich beim Bingewatching-Ansatz?

Wir veröffentlichen nicht alle unsere Produktionen zum Bingewatching. Wir haben den „Bachelor“ in Japan erwähnt. Solche Formate funktionieren nicht im Bingewatching, sonst würde jeder die letzte Folge zuerst gucken und wissen wer gewinnt. Also haben wir zunächst drei oder vier Episoden veröffentlicht, dann wöchentlich eine neue Folge. Aber bei neuen Staffeln von geliebten Serien wie „The Marvelous Mrs. Maisel“ freuen sich unsere Kunden schon so sehr auf die neue Staffel, dass wir uns dem nicht in den Weg stellen wollen und alle Folgen gleichzeitig veröffentlichen.

Herr Farrell, Herr Pratt, herzlichen Dank für das Gespräch.