Frau Winger, nehmen Sie die Ausbreitung des Coronavirus als Anlass, es mal ruhiger anzugehen?

Ich hätte gerne persönlich mit dem Team das Endergebnis unserer Produktion gefeiert. Das machen wir jetzt zwar immer noch, aber eben nicht zusammen, sondern virtuell. Ich hätte mir, dass so natürlich niemals ausgesucht, aber wir sind glücklich darüber, dass die Serie nun auf Netflix zu sehen ist. Ich kann nur hoffen, dass diese hoffnungsvolle und inspirierende Geschichte den Leuten, die gerade überall auf der Welt zu Hause bleiben müssen, viel Freude machen wird.


Als Sie ihre Produktionsfirma Studio Airlift gegründet haben, haben Sie gesagt, dass Sie Projekte umsetzen wollen, die komplex und speziell sind und die Menschen auf der ganzen Welt ansprechen. Nun ist “Unorthodox” die erste Produktion aus ihrem Hause. Inwiefern passen diese drei Adjektive auf diese Serie?

"Unorthodox" war bereits deswegen ein verrücktes Projekt für uns, weil wir die Serie größtenteils in Jiddisch gedreht haben, eine Sprache, die heutzutage nur noch sehr wenige Menschen sprechen. Dass die Serie bei Netflix zu sehen ist, zeigt außerdem, dass diese Geschichte ein globales Publikum ansprechen wird. Natürlich ist das immer noch eine Nischen-Serie, doch die Nische ist, auf das Weltpublikum gestreckt, keine kleine Sparte mehr. Hätten wir die Serie einem nationalen Sender angeboten, hätte das anders ausgesehen. Komplex und speziell ist die Miniserie in der Hinsicht, dass wir einer Frau dabei folgen, wie sie aus ihrer strenggläubigen Gemeinde in Amerika nach Deutschland flieht, um sich ein neues Leben aufzubauen. Es wird die Befreiung einer Persönlichkeit und ein drastischer Lebenswandel gezeigt, der es in sich hat. Man muss auch keine Jüdin sein, um ihren Weg nachvollziehen zu können - der Wunsch nach Freiheit ist ein universeller.

"Wir verdienen eine Zauberurkunde für das, was wir auf die Beine stellen."

Sie sind ebenso eine jüdische Frau, die aus ihrer amerikanischen Heimat nach Berlin gezogen ist. Wie viel Anna Winger steckt in “Unorthodox”? 

Shira Haas verkörpert die Protagonistin so intensiv und emotional, dass viele Menschen ihre Lebensgeschichten hier wiedererkennen werden. Ich selber bin nicht religiös aufgewachsen, kann aber ihre anfänglichen Erfahrungen in Berlin nachvollziehen. Als ich nach Deutschland gekommen bin, war es auch für mich ein Abenteuer, bei dem man nicht absehen konnte, wie es genau endet und ob ich glücklich werde. Ein Journalist hat mir vor kurzer Zeit erzählt, dass er ursprünglich aus einem kleinen, katholischen Dorf in Bayern kommt und ebenfalls den Wunsch hatte, nach Berlin zu ziehen. Durch "Unorthodox" wurde er daran erinnert, wie es damals für ihn war. Die Suche nach einem selbst und der Wunsch, in einer Welt zu leben, in der man sich frei entfalten kann, steckt also in jedem Menschen. 

Sie sind Creator der Serie, zusammen mit Alexa Karolinski. Als Regisseurin wurde Maria Schrader gewonnen. War es Ihnen trotz des universellen Gedankens der Serie wichtig, vor allem Frauen im Kreativ-Team zu haben?

Wird bei Produktionen, bei denen vor allem Männer arbeiten, eigentlich auch gefragt, warum es so wenige Frauen gibt? Ich achte als Produzentin darauf, dass jedes Team inklusiv aufgestellt ist. Um eine Serie zu produzieren, braucht es ein ganzes Dorf. Für mich als Showrunnerin ist es die Aufgabe, die richtigen Leute in das Dorf zu holen.

Unorthodox

Weniger Haare, mehr Leben: Protagonistin Esther (Shira Haas) flieht aus ihrem religiösen Leben nach Berlin.

Sie haben "Unorthodox" für Netflix produziert, stellen derzeit noch "Deutschland 89" für Amazon fertig und sind Executive Producer der Serie "Suspicion" für Appl . Mir ist bewusst, dass Sie kein Fußballspieler mit einem exklusiven Vertrag sind - doch wie gut funktioniert es, für drei Unternehmen zu arbeiten, die im direkten Wettbewerb zueinander stehen?

Das klingt zwar so, als ob sich etwas beißen müsste - tut es aber nicht. Das ist für Außenstehende wahrscheinlich etwas schwer vorstellbar, aber ich arbeite nicht mit ‘ganz Netflix’ zusammen, sondern mit ein paar Verantwortlichen. Gleiches Spiel bei Apple und Amazon. Ich für meinen Teil sehe es so, dass ich nicht mit der Firma an sich arbeite, sondern mit wenigen kreativen Köpfen auf Sender-Seite, mit denen ich gut funktioniere. Obwohl wir hier von sehr großen Firmen sprechen, ist der direkte Kontakt sehr übersichtlich und familiär.

In einem vor zwei Jahren bei DWDL.de erschienenem Gespräch haben Sie verraten, dass sie beim Abendessen mit Amy Palladino und ihrem Ehemann erfahren haben, wie viel Geld sie im Großen und Ganzen für "The Marvelous Mrs. Maisel" zur Verfügung gestellt bekommen. Sie waren schockiert. Wie fallen die Schecks von Netflix und Apple aus?

Seit diesem Abendessen habe ich ein besseres Verständnis dafür, dass Produktionen außerhalb Deutschlands einfach viel mehr kosten - vor allem, wenn sie in Englisch gedreht werden. Ich kann die teilweise absurd wirkenden Budgets also mittlerweile verstehen. Außerdem weiß ich jetzt, wie viel Magie wir im Verhältnis mit deutlich weniger Geld in Deutschland hinbekommen. Wir verdienen eine Zauberurkunde für das, was wir auf die Beine stellen (lacht). Bei "Unorthodox" möchte ich mich aber auf keinen Fall beschweren. Sie haben uns in Jiddisch drehen lassen und auch sonst viele Freiheiten gelassen.

Nach der interessanten Zeit mit RTL arbeiten Sie derzeit exklusiv mit Streaming-Diensten zusammen. Was muss passieren, damit Sie wieder für das lineare Fernsehen produzieren? 

Wenn ich wieder gefragt werde. So einfach ist das.

Wurde die Produktion von "Deutschland 89" wegen des Coronavirus nun eigentlich gestoppt, oder waren die Dreharbeiten sowieso schon abgeschlossen?

Mein Ehemann hat die Post-Produktion in unser Haus verlegt (lacht). Wir werden nach jetzigem Stand also nicht von unserem Zeitplan abweichen müssen. Es ist verrückt, was die moderne Technologie alles ermöglicht.

Sie haben ebenfalls die Rechte an Hennie van Vuurens "Apartheid, Guns and Money" erworben. Wie ist dort der Stand?

Hier haben wir bereits einen Deal zustande bekommen, über den ich jedoch noch nicht reden kann.

Haben Sie noch andere Projekte in der Pipeline?

Ich schreibe derzeit mit Daniel Hendler, der auch schon bei “Unorthodox” mit uns geschrieben hat, einem Piloten zu einer Abenteuer-Serie, die während der Flüchtlingskrise in Marseille 1940 spielt.

Wie zufrieden sind Sie mit dem ersten Jahr von Studio Airlift?

Das Schöne an einer eigenen Produktionsfirma ist, dass man sich die Projekte aussuchen kann, die einem wirklich am Herzen liegen. Wir haben mit "Unorthodox" eine tolle erste Serie geschaffen und weitere Projekte in der Mache, für die wir mit genauso viel Herzblut brennen.

Frau Winger, vielen Dank für das Gespräch!

Die vierteilige Mini-Serie "Unorthodox" steht seit heute auf Netflix zum Streaming zur Verfügung. Anna Winger hat mit Studio Airlift als kreative Produzentin der Serie fungiert, Henning Kamm von Real Film war als Executive Producer vertreten.