Johannes, mehr als zwölf Jahren nach deiner Zeit bei DWDL sprechen wir uns mal wieder. Ein Wiedersehen nach langer Zeit ist auch Kern deiner neuen Serie Deadlines, bei der du erstmals nicht nur Autor sondern Showrunner bist. Was bedeutet dir dieser Unterschied?

Sehr viel, weil dieses Modell in Deutschland noch nicht oft realisiert wurde. Man kann als Showrunner viele Abläufe und Strukturen selbst definieren, beispielsweise Buch und Casting in einer Hand zu haben, und das hat beim Schreiben einen qualitativen Unterschied gemacht. Wir bekamen von unseren Schauspielerinnen Feedback, konnten die Charaktere genauer definieren und gemeinsam schauen, wo die Comic Delivery jeder Figur liegt, auch weil sich z.B. Jasmin Shakeri in ihrer Rolle persönlich wiederfand, sie sagte zu Elifs Backstory:Ihr beschreibt im Grunde mein Leben.So entstanden unsere Figuren nicht für, sondern mit den Darstellerinnen. Das war einer der tollen Aspekte des Showrunner-Prinzips. Es ist auch sehr beruhigend zu wissen, dass das Buch am Set und im Schnitt King bleibt. Ich war beim Dreh dabei und habe im Schnitt die Entscheidungen getroffen - immer mit der Story im Kopf und dem Wissen über die Figuren.

Es klingt als sei dem nicht immer so?

Showrunner zu sein, minimiert die bösen Überraschungen und macht hundertmal mehr Spaß. Wenn man auf dem Papier etwas entwickelt, kommt immer irgendwann dieser Moment an dem man es als Autor in andere Hände geben muss. Das ist schon ein Kontrollverlust, weil Regie oder Produzenten mal mit Unverständnis, eigenen Ideen oder eben anderer Handschrift etwas daraus machen und man in der Ungewissheit lebt, wie das Endergebnis aussehen wird. Du kennst es als Unternehmer bei DWDL ja auch: Wenn man alle Schritte mitgestaltet, ist das zwar eine enorme Arbeitsfülle auf die man auch selbst wirklich Bock haben muss, aber man sieht dafür ein Projekt entstehen,hinter dem man ohne jeden Zweifel steht. Das würde ich gerne auch bei weiteren Projekten beibehalten, aber ist dann auch über ein oder anderthalb Jahre komplett geblockt. Ich danke hier auf jedem Fall ZDFneo, insbesondere Jörg Schneider aus der Redaktion des kleinen Fernsehspiels im ZDF sehr, der uns als Fan des Serienstoffs hat frei arbeiten lassen und der eine riesige Unterstützung war.

Ganz so geblockt warst Du offenbar nicht: Du hast an KBVgearbeitet und dann kam der Auftrag zur Telekom/Warner-Serie Oh Hell“…

Dieser Beruf ist nicht planbar. Ideen kommen zu den unmöglichsten Zeiten und Zusagen für neue Projekte kommen auch oft, wenn man gerade woanders eingespannt ist. So kam das Go der Telekom für Oh Hell, wo ich die Bücher alleine geschrieben habe und die Serie ebenfalls als Creator gestalte,gerade in der Woche, als wir mit den Dreharbeiten zu Deadlinesgestartet sind. Man muss immer für sich beantworten, wie viel noch geht und wie viel Selbstausbeutung man akzeptiert (lacht). Aber wenn man Vertrauen geschenkt bekommt, fördert das den Flow natürlich sehr und eigene Ideen realisieren zu können, ist ein Geschenk. Bei Oh Hellgibt es mit Moritz von der Groeben von der good friends einen tollen Produzenten, der genau weiß wem er Verantwortung schenkt und dann auch machen lässt. Das gilt dort auch für die Zusammenarbeit mit der Telekom und Anke Greifeneder von WarnerMedia. Das ist ein Rückenwind, den es vor zehn Jahren nicht gab.

Über die Person

  • Johannes Boss kommt aus der "osthessischen Pampa" und hielt Frankfurt für eine Metropole bis er nach Berlin zog. Von 2004 bis 2008 schrieb er für das Medienmagazin DWDL.de die Kolumne "Sendungsbewusstsein - zur Zukunft des Fernsehens" und führte zahlreiche Interviews bevor er die Seiten wechselte. Der heute 38-Jährige arbeitete für "Ulmen.tv" und "Stuckrad Late Night", war später Co-Autor der Kino-Verfilmung von "Er ist wieder da" und vier Staffeln "Jerks". In diesem Jahr startete schon "KBV" bei TVNow und jetzt "Deadlines" bei ZDFneo. Für die Deutsche Telekom und WarnerMedia schreibt er die neue Serie "Oh Hell".

Was gab es vor zehn Jahren stattdessen?

Erbarmen. Vor zehn Jahren waren Kreative in einer Bittsteller-Haltung. Es gab keine Überzeugung für Projekte sondern Skepsis und diese furchtbare Frage Versteht der Zuschauer das?, was natürlich zu mehr von dem führt, was man kennt weil neue Erzählungen eben mehr herausfordern. Das habe ich damals bei Ulmen Television erlebt, als wir für einen öffentlich-rechtlichen Sender eine fiktionale Idee rund um einen rechtskonservativen Late-Night-Host entworfen hatten, die erst alle toll fanden und intern schon stolz rumgereicht wurde aber am Ende doch jemand kalte Füße bekam. Und heute habe ich das Gefühl, dass sich viele Entscheidungsträger von einem richtig guten Stoff auch gerne begeistern lassen. Und mit einer tollen Idee hat man heute selbst die Wahl, welche Partner man zuerst anspricht.

Traust Du dieser schönen neuen Serienwelt?

Ich weiß nicht, ob wir schon in der nächsten Bubble sind. Es gibt Kollegen, die befürchten dass wir in zwei Jahren wieder alle auf der Straße sitzen weil sich all die Ambitionen nicht gerechnet haben. Andere sagen: Nein, das Sehverhalten hat sich dauerhaft verändert, auch die Bezahlbereitschaft und ermöglicht mehr Angeboten mehr zu investieren.

 

"Das Fernsehen ist im Kulturbetrieb die einzige Gattung, bei der sich Werke einer brutalen Beurteilung der Wirtschaftlichkeit unterziehen müssen."

 

Derzeit wird zweifelsohne viel Geld ausgegeben, aber ob es sich lohnt und woran man das festmachen soll, ist längst nicht mehr klar einsehbar.

Ich verstehe, dass die deutschen Streamingdienste mit Zahlen vorsichtig umgehen, weil beim Aufbau einer Marke in der Öffentlichkeit das Gespür dafür fehlt, was eigentlich ein Erfolg wäre und im Vergleich zu internationalen Streamingdiensten fallen die reinen Zahlen von deutschen Anbietern auch beim größten Erfolg kleiner aus. Den Stempel will man sich nicht holen. Ich finde die Entwicklung nur fair: Das Fernsehen ist bislang im Kulturbetrieb mit seinen vielfältigen Gattungen - und ich begreife die Möglichkeiten des Mediums als Raum für Kultur - die einzige Gattung, bei der sich Werke einer brutalen Beurteilung der Wirtschaftlichkeit unterziehen müssen. Bei bildender Kunst, bei Theater, bei Musik und auch beim Kino wird ohne den Wirtschaftlichkeitszwang gefördert, weil wir uns das als Gesellschaft leisten wollen und sich nicht alle Werke unbedingt rechnen müssen - weil wir kulturellen Mehrwert sehen. Das Fernsehen hat sich selbst durchkommerzialisiert, da waren andere Länder früher dran als wir und haben zum Beispiel das serielle Erzählen als Kunstform intensiver gefördert. Da holen wir immer noch auf. In den letzten Jahren habe ich das Glück gehabt, eine Menge Leute kennenzulernen, die übrigens auch auf Senderebene die Lust am Erschaffen teilen.

Kam sowas wie Stuckrad Late Night, wo du auch mitgewirkt hast, zehn Jahre zu früh?

Die letzten Jahre mit ihren politischen und gesellschaftlichen Großereignisse haben sicher dafür gesorgt, dass wir in stärker politisierten Zeiten leben als damals. Der Diskussionsbedarf war ja noch nie größer, also ja, die Sendung hätte heute sicher ein ganz anderes Echo. Es war damals auch ein Fehler, eine Fernsehsendung zu denken und die Standpunkte der Sendung nicht in die sozialen Netzwerke zu tragen. Das war damals noch nicht so selbstverständlich. Das Publikum soll bitte zu uns kommen, nicht wir zu ihm. So war die Sendung wie ein kleiner Salon mit gelegentlichen intellektuellen Peaks, die aber nur die wenigen bemerkten, die dabei waren.

Bleiben wir im Hier und Jetzt: Jerks, KBV, das gerade gestartete Deadlinesund Oh Hell. Mit wie vielen Figuren kann man parallel im Kopf jonglieren?

Wenn du deine Figuren und deren Welt gut kennst, dann ist das Schreiben gar kein riesiger Zeitfresser. Gerade deshalb hoffe ich bei meinen neuen Projekten auf zweite Staffeln, weil das die Erzählwelten bei Deadlinesund auch Oh Hellhergeben würden. Ich glaube daran, dass es die Charaktere sind, die stimmen müssen um Geschichten weiter zu erzählen. Und bei KBVging eine zweite Staffel gut von der Hand, weil man die Mechanismen und den Rahmen der Handlung kennt. Bei Deadlineswill ich natürlich gerne morgen abend eine Produktionszusage für die zweite Staffel bekommen, aber was wir schon seit dem Rohschnitt der ersten Staffel haben - und das ist auch eine positive Entwicklung - ist der Auftrag für die Bücher einer möglichen zweiten Staffel. Damit kann man Gedanken und Entwicklungen der Figuren nahtlos fortführen.Das ist aber nicht nur ein Geschenk an Kreative sondern notwendig, wenn Auftraggeber sicher gehen wollen, dass man bei der Vielzahl an Projekten und Plattformen nicht erstmal woanders verplant ist für die nächsten zwei Jahre.

Johannes Boss © Johannes Boss

Reden wir über Deadlines. Woher kam die Idee zur Serie über vier Freundinnen, die sich nach Jahren wiedertreffen?

Die Grundidee kommt von der Produktionsfirma Turbokultur, die mir dort Ende 2019 auf dem Gang zugerufen wurde. Das war ein Pitch beim ZDF. Und ich konnte mich gleich sehr mit der Idee der 30-somethings und ihren Ziellinien identifizieren. Was mich sehr gereizt hat ist die Tatsache, dass ich mich bei Jerksjahrelang mit dem totalen Durchleuchten von Männlichkeitsproblemen beschäftigt habe, alle Sümpfe durchwatet bin, so dass ich hier mal den Blickwinkel ändern kann: Vier tolle Hauptdarstellerinnen und darüber hinaus viele Frauen, die am Projekt arbeiten und mit Nora Gantenbrink eine Mitautorin, mit der die Arbeit sehr symbiotisch war. Da haben wir beim ZDF erstmal zwei Folgen eingereicht.

Welche Rolle spielt Frankfurt?

Für mich, der aus der osthessischen Pampa kommt, war Frankfurt als Kind der Inbegriff von Großstadt und allein die Kulisse der Stadt bietet viel. Visuell insbesondere als einzige deutsche Stadt eine Vertikale, und die sichtbaren sozialen Gegensätze erleichtern die Fallhöhe für die Geschichten unserer vier Hauptrollen. Und ich ertrage ehrlich gesagt auch nicht noch eine Serie, die die Oberbaumbrücke in Berlin abfilmt. Das ist durch. Berlin ist durch. Ich wohne zwar selbst seit 20 Jahren hier, aber wer in Berlin etwas neu erzählen will, muss schon eine sehr hohe Hürde nehmen. Die Stadt ist visuell durcherzählt. Während ganz Deutschland schon beim Namen Berliner Stadtteile Klischees im Kopf hat, ist Frankfurt eine weniger vorbelastete Spielfläche und hat gleichzeitig einen viel länger gewachsenen multikulturellen Background. Das Bahnhofsviertel als vielleicht berüchtigstes Viertel kommt nur einmal kurz vor, bedeutet mir aber viel. Und wenn ich mir die Landkarte von Deutschland anschaue, haben wir da noch viel zu entdecken bei nicht erzählten Orten und Milieus.

Du sagtest eben, du hättest dich mit Männlichkeitsprobleme bei Jerksbis zum Erbrechen beschäftigt. Wie weit kann man Jerksnoch erzählen?

Das musst du eher Christian Ulmen fragen, der mit Fahri Yardim auch vor der Kamera seinen Kopf hinhält. Für mich persönlich waren jetzt vier Staffeln in den Abgründen der beiden Figuren und in der Zusammenarbeit mit Christian eine großartige, sinne-schärfende Zeit mit tollem Erfolg. Aber ich freue mich jetzt auf andere Charaktere bei Deadlinesund Oh Hell und weiteren Serien. Es wird nach vier Staffeln Jerksweitergehen, aber ohne mich.

 

"Der Plot ist es nicht, der mich an eine Serie bindet. Mich faszinieren die Charaktere."

 

Wenn ich behaupte, dass Deadlinesund Oh Hellsich im porträtierten Alter und Lebensumständen ähneln

dann ist das nicht ganz falsch. Das Leben hier und jetzt liegt mir einfach näher als ein Agententhriller der 50er Jahre. Aber in der Erzählsprache und stilistisch liegen Deadlinesund Oh Hellweit auseinander. Bei Oh Hellhaben wir die Hauptrolle der Helene, bei der wir mit einer Gleichwertigkeit das erzählen was ihr passiert und was sie denkt. Das ist der formelle Kniff, der wahnsinnig viel ermöglicht. Ein kleines bisschen so wie bei Cut-Away-Szenen bei Family Guy, mit denen man noch in einen Gag reingeht. Helene ist überfordert mit der Optimierungsgesellschaft, das ist zumindest die Anfangsprämisse. Auch hier freu ich mich über die Figur, die Mala Emde spielt. Es zahlt sich aus meiner Sicht aus, wenn Serien mit gut überlegten Charakteren starten weil man die dann vielfältig erzählen kann, in andere Zeiten oder Umgebungen versetzen kann. Wenn Figuren nicht stark genug sind, hat es der Plot viel schwerer. Und ich gebe zu: Der Plot ist es nicht, der mich an eine Serie bindet. Mich faszinieren die Charaktere. Oder um es anders zu sagen: Ich gucke lieber Better Call Saulals Breaking Bad, weil mir die Entwicklung von Saul Goodman mehr gibt als die Wendungen des Plots um Walter White. Und um noch etwas anzuteasen an dieser Stelle: Ich arbeite an einer Serie über eine große deutsche Tageszeitung mit noch größeren Buchstaben auf der Titelseite und das nicht mit dem Zeigefinger oder Enthüllungen sondern einem Porträt der manchmal schillernden Personen in einem solchen Haus. Wenn Du an die Amazon-Doku denkst und dir dann vorstellst: Wäre man da bloß bei manchen Situationen länger dabei gewesen.

Wie sehr hat dich die Pandemie innerhalb der Stoffe der Serien beschäftigt?

Es war gar nicht so einfach zu bewerten, ob die Pandemie jetzt eine Rolle spielen sollte. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sich die Lage zum Zeitpunkt der Ausstrahlung schon wieder beruhigt hat und es eher anstrengend wirkt fürs Publikum, wenn man dann an diese Zeiten erinnert wird. Deswegen haben wir uns bei beiden Serien, also Deadlinesund Oh Hell, entschieden es nicht zu tun. Aber es spricht nichts dagegen, eine Serie über die Pandemie zu machen bzw. das Leben in der Pandemie zu thematisieren, wenn das von Anfang die Absicht ist.

Über KBV“ für TVnow haben wir noch nicht gesprochen. Was kannst du über die zweite Staffel sagen?

Es gibt eine neue Mission und in der Tat mehr Abweichung in der Adaption. Bei der ersten Staffel haben wir uns bei den Profilen der Personen schon sehr an der Vorlage orientiert, um automatisch auch die funktionierenden Mechaniken zwischen den Figuren zu haben. Da haben wir uns jetzt stärker abgegrenzt mit insgesamt vier neuen Hauptfiguren und mit Till Reiners und Moritz Neumeier überraschende Besetzungen gibt, aber zur Story selbst darf ich leider nicht viel mehr sagen. Je vertrauter man mit dem Gerüst ist, desto mehr kann man variieren. Das war auch bei Jerksso, wo es eine Vorlage aus Dänemark gab, aber ab der zweiten Staffel sind wir dann ja doch sehr eigen geworden. Bei KBVwürde ich übrigens den Tipp abgeben: Da schaffen wir mehr Staffeln als die internationalen Versionen, weil TVNow sehr viel Bock hat darauf und wir sehr oft drauf angesprochen werden auf das Projekt, das vielleicht als Adaption startet aber eigene Wege gehen kann. Und mit Lutz Heineking Jr. zu arbeiten ist eine spannende und sehr eigenwillige Erfahrung.

Ist das gut?

Das ist sehr gut. Lutz ist ein Multitalent. Regisseur, Autor, Produzent und Unternehmer mit der Eitelsonnenschein. Und Schnapps brennt er auch noch. Mit Lutz werde ich, das kann ich an der Stelle schon mal sagen, im nächsten Jahr auch noch ein anderes Serienprojekt umsetzen, das wieder eine sehr ungewöhnliche Erzählstruktur hat und für das ich mich gerade in meine traumatische Schulzeit zurückversetze.

Johannes, lieben Dank für das Gespräch.

Die acht Folgen der ersten Staffel "Deadlines" sind bereits komplett in der ZDF Mediathek abrufbar und werden ab diesen Dienstag, 23.15 Uhr, in Doppelfolgen bei ZDFneo ausgestrahlt.