Frau Hofem, vor exakt hundert Tagen haben Sie Ihre neue Aufgabe als Vice President Series DACH bei Netflix angetreten. Nach mehr 20 Jahren Erfahrung bei Sendern: Kocht Netflix auch nur mit Wasser?

Das waren die spannendsten ersten 100 Tage meiner Karriere. Netflix ist ‘the place to be’, weil hier der Zuschauer im Mittelpunkt steht. Das ist für mich eine neue Erfahrung, weil es ganz unmittelbar um die Zufriedenheit der Mitglieder geht.

Neu, weil anders als im werbefinanzierten Fernsehen?

Nein, ich würde das lineare Fernsehen gegen diesen Vorwurf verteidigen. Auch dort möchte man Programm machen, das gesehen wird. Erst viele Zuschauer machen Werbekunden glücklich. Aber es ist natürlich ein anderes Denken, weil man nicht mehr in Sendeplätzen denken muss. Wenn der Blick auf die Einschaltquoten am Morgen entfällt, weil sich die Qualität einer Produktion nicht mehr daran bemisst, wie viele Menschen zu einer festgeschriebenen Uhrzeit erreicht wurden, wird der Blick auf Erfolg und Qualität von Programmen viel holistischer. Natürlich ist eine starke Gegenprogrammierung aber auch keine Ausrede mehr.

Bei Netflix kann man also ausschlafen?

(lacht) Das frühe Aufstehen für die Einschaltquoten ist etwas, was ich nicht vermisse. Egal ob Weihnachten, Urlaub oder Hochzeitstag - um 8.13 Uhr ging der Griff zum Handy und die Quoten wurden studiert. Die Gewohnheit konnte ich mir schnell abtrainieren, weil Netflix der Bewertung einer Sendung mehr Zeit gibt. Und es bedarf keiner unmittelbaren Entscheidungen, ob man beispielsweise einen Flop vor der nächsten Ausstrahlung aus dem Programm nimmt. Das lässt überlegtere Entscheidungen zu. Und wir wissen ja inzwischen auch, dass ein Hype manchmal mit Zeitverzögerung entsteht. „Squid Game“ ist dafür ein gutes Beispiel: Das war erstmal eine koreanische Serie für den koreanischen Markt, aber wurde dann mit etwas Verzug weltweit zum Hype. Man kann vielleicht sagen: Netflix hat mehr Zeit, was die Chance bietet, jedem Projekt gerecht zu werden, weil es nicht an Tag X eine Lücke im Programmschema füllen muss. Das lässt beim Casting oder den Büchern bei Bedarf die Freiheit, die man braucht.

Das klingt mir zu harmonisch. Wie viel Zeit ist denn genug für eine Beurteilung? Nehmen wir „Kitz“, da sind sechs Wochen seit der Veröffentlichung vergangen. Zeit genug für eine Bewertung?

Natürlich müssen wir Entscheidungen fällen. Ich sage mal, die Zeiträume in denen ich denke sind vier Wochen, drei Monate und sechs Monate. In der Staffelung schaut man sich die Programme an und bewertet den Erfolg. Und nach vier Wochen bis drei Monaten sollten sich einige Fragen beantworten lassen, was die Zukunft eines Titels angeht. Das ist für mich die größte Umstellung, weil im werbefinanzierten Fernsehen ja durchaus auch schon mal nach dem ersten Tag das Fallbeil fällt oder man es mitten in die Nacht verschoben hat.

Aber Netflix verfügt über exakte Nutzungsdaten. Wie muss ich mir das vorstellen: Verfolgen Sie in Echtzeit die Performance Ihrer Programme?

Oh Gott, ich glaube, ich würde wahnsinnig werden. Das wäre noch schlimmer als die Quoten am Morgen. Das könnte abhängig machen und da wäre ich sehr gefährdet. Natürlich haben wir Tools, die wir benutzen können, und die ich auch alle gerne nutze, aber die erwähnten vier Wochen sind ein ganz gesunder Zeitraum, um reinzuschauen.

Okay, diese Geduld muss ich Ihnen wohl glauben…

Die musste ich auch erst neu lernen. Es ist eine Lernkurve für mich, dem schnellen Urteil zu widerstehen. Aber es macht den Kopf frei für meine große Aufgabe, den German Slate gemeinsam mit meinem Team für die nächsten zwei drei Jahre auszubauen, um eine Kontinuität bei unseren deutschen Inhalten zu haben. Denn auch wir müssen natürlich sicherstellen, unseren Mitgliedern in Deutschland, Österreich und der Schweiz in gewisser Regelmäßigkeit neue Inhalte aus der Region anbieten zu können. Wir sind mit dem Aufbau unseres Büros in Berlin nicht mehr nur ein Angebot für unsere Mitglieder, sondern hier am Standort angekommen. Hier arbeiten jetzt schon 80 Leute und es werden mehr. Netflix verankert sich als Teil der lokalen Branche mit aller Verantwortung, die das mit sich bringt.

 

"Die Zeiten, in denen Kreative nachts um 3 Uhr Calls mit Netflix machen müssen, sind definitiv vorbei"

 

Wie meinen Sie das?

Nachwuchsförderung und Fachkräftemangel sind Themen, die die ganze Branche beschäftigen. Da engagieren wir uns mit einer eigenen Abteilung, die Grow Creative heißt. Mit Benjamin Harris haben wir vor Ort in Berlin einen Kollegen, der sich genau darum kümmert. Mit ‘Impact x Netflix DACH’ wurde gerade von uns ein Programm für neue Autor*innen gestartet, bei dem wir erfahrenen Hollywood-Größen mit vielversprechenden Talenten zusammenbringen, um gemeinsam Drehbücher zu entwickeln. Bei ‘Berlinale Talents’ sind wir in diesem Jahr Partner und arbeiten mit Kreativen aus aller Welt zusammen, außerdem fördern wir das European Showrunner-Programm an der ifs Köln. In der Zusammenarbeit mit Kreativen wollen wir uns als Partner etablieren, die am bestmöglichen Ergebnis orientiert sind und dafür auch Hürden in Kauf nehmen - eben weil es weniger Zeitdruck gibt als bei geplanten Ausstrahlungen im linearen Fernsehen, wo ein Programmplatz ja nicht einfach leer bleiben kann. Das ist auch für mich neu. In jeglicher Hinsicht ist unsere Message klar: We are here to stay for the creative community. Das werden wir 2022 sehr deutlich machen. Unser neues Berliner Büro haben wir ja erst im Spätsommer 2021 während der Pandemie eröffnet. Wir erhoffen uns, dass in diesem Jahr, wenn es Corona zulässt, deutlich mehr Präsenz-Veranstaltungen und Austausch möglich wird. Damit auch ein für alle Mal das Vorurteil ausgeräumt wird, dass bei Netflix alle Entscheidungen eh nur in den USA getroffen werden. Budgets für Produktionen aus dem DACH-Raum werden von uns hier in Berlin vergeben.

Andere Streamer haben den Herr der Ringe, Netflix in Deutschland also die Frau der Budgets?

(lacht) Naja, mindestens Frauen - in der Mehrzahl. Ich mache das ja nicht ganz allein. Wenn wir uns das deutsche Führungsteam in Berlin anschauen, darunter Sasha Bühler (Film), Inga Leschek (Nonfiktional) und Steffi Ackermann (ebenfalls Serien), ergibt das ein beeindruckendes Bild, das ich in meiner Karriere so nie zuvor erlebt habe. Mit unserer Frauenpower sind wir definitiv ein Antipol zu anderen führenden deutschen Medienkonzernen. Ein paar tolle männliche Kollegen sind natürlich auch dabei.

Netflix Content Road Show 2022 © Netflix Netflix-Quintett bei der virtuellen "Content Remote Show" des Streamers: Katja Hofem, Inga Leschek, Hadnet Tesfai (Moderation), Sasha Bühler, Steffi Ackermann (v.l.n.r.), ©Netflix

Es braucht also nicht länger Drehbuchbesprechungen mit Los Angeles mitten in der Nacht deutscher Zeit, die bei den ersten deutschen Produktionen nach Angaben von Beteiligten mitunter zermürbend waren?

Damals gab es noch kein Team vor Ort in Deutschland. Die Zeiten, in denen Kreative nachts um 3 Uhr Calls mit Netflix machen müssen, sind definitiv vorbei.

Bei Ihrer erneut virtuellen "Content Remote Show" gab Netflix jetzt einen Ausblick auf neue deutsche Projekte, darunter mit „Liebes Kind“ und „Achtsam Morden“ zwei neue Serien. Tragen die schon Ihre Handschrift?

Die beiden Projekte waren schon in der Arbeit als ich hier angefangen habe, weil wir ja schon ein herausragendes Serien-Team am Werk hatten, das binnen zweieinhalb Jahren von zwei auf inzwischen neun Leute gewachsen ist. Beide Serien gehen jetzt in Produktion. „Achtsam Morden“ habe ich als begeisterte Yoga-Gängerin schon als Buch total geliebt. Hier sorgt Achtsamkeit mal auf eine ganz andere Art für Ausgleich, sozusagen.

Jetzt kann man „Liebes Kind“ wohl als Thriller kategorisieren, aber wer das angesprochene Buch nicht kennt: Wie charakterisiert man „Achtsam Morden“?

Ich würde es als Crossover von Crime und Comedy bezeichnen, mit durchaus absurden Zügen. Eine Crimedy vielleicht? Ich glaube das passende Label dafür ist noch nicht erfunden. Sie kennen mich ja jetzt auch schon eine ganze Weile und ich habe an Dingen, die vorher noch nicht gemacht wurden, am meisten Spaß. „Liebes Kind“ ist in der Tat Thriller durch und durch, der durch seine Story überzeugt. Da bedienen wir ein Lieblingsgenre der Deutschen. Zur Überbrückung der Wartezeit kann ich übrigens sehr die Serie „Der Kastanienmann“ unserer dänischen Kollegen empfehlen. Eine sehr bewegende Geschichte.

„Liebes Kind“ aber auch an die schon zuvor angekündigten Serien „Totenfrau“ oder „Kleo“ sind Produktionen, die der etablierten Disziplin des deutschen Krimi-Mehrteilers nahe kommen. Einst wollten Streamingdienste anbieten, was es nicht gab. Jetzt kopieren Sie ARD und ZDF?

Ich würde eine Serie wie „Kleo“ beispielsweise nicht bei ARD oder ZDF verorten, weil es keine Kriminalserie oder klassischer Thriller ist, sondern eine sehr eigene Heldenreise. Es kommt immer auf die Erzähl- und Produktionsweise an, die etwas Besonderes haben muss. Es braucht den Netflix-Edge und wenn es den gibt, dann verschließen wir uns natürlich nicht vor einem beim deutschen Publikum so populären Genre.

 

"Die Königsdisziplin wäre eine langlaufende Serie"

 

Wir erleben seit Jahren den Trend zu sehr kurzen Serienstaffeln, wenn nicht sogar abgeschlossenen Miniserien. Wie stehts um die lang laufende Serie?

Wenn ich mir das Gesamtangebot von Netflix anschaue, dann sind „Haus des Geldes“ oder „Ozark“ Beispiele dafür, wie wir lange dran bleiben können an liebgewonnenen Charakteren. Bezogen auf unseren deutschen Slate gibt es auch immer die Option einer nächsten Staffel und mit „Dark“ und „How to Sell Drugs Online (fast)“ hatten wir auch schon zwei Serien in drei Staffeln. Und bei “Barbaren” haben wir auf der Content Remote Show bereits erste Bilder der zweiten Staffel präsentiert. Es hängt letztlich vom Interesse unserer Mitglieder ab. Wenn das spürbar ist, entscheiden wir auch schnell über eine Fortsetzung.

Welche Genres stehen auf der Wunschliste von Katja Hofem? Wonach sucht Netflix im deutschsprachigen Markt?

Die Königsdisziplin wäre eine langlaufende Serie, bei der wir mit unseren Mitgliedern den nächsten Staffeln entgegenfiebern. Das wünscht sich ja jeder Kreative. Natürlich ist das dementsprechend auch auf meinem Wunschzettel, also Serien mit einem auch etwas soapigen Charakter, ebenso aber die Frage, wie man Comedy nochmal neu erzählen kann. Da würden wir auch gerne mehr Ideen vorgestellt bekommen.

Soapigen Charakter verspricht „The Empress“, wobei sich da die Frage stellt: Was zeigt Netflix noch, was RTL+ mit der „Sisi“-Neuauflage nicht schon gezeigt hat?

Unsere Interpretation unterscheidet sich von der RTL-Produktion, die ja über insgesamt acht Jahre erzählt, durch die Fokussierung auf die Familiendynamik in einer kürzeren Erzählzeit. Es ist die Liebesgeschichte zwischen Sisi und Franz, aber es geht auch um die komplexe Dynamik am Hof. Wir erzählen mit „The Empress“ ein emotionales Familiendrama vor historischem Hintergrund, ohne uns an der ganz großen chronologischen Zeitachse abzuarbeiten. Es wird definitiv anders als „Sisi“ bei RTL+. Die Dreharbeiten sind gerade abgeschlossen.

Von einer historischen Geschichte zur anderen: Die „Barbaren“ gehen in eine zweite Staffel. Die Dreharbeiten sollen nach DWDL.de-Informationen nicht ganz reibungslos gelaufen sein und deutlich länger gedauert haben als geplant. Was war da los?

Am Ende wurde alles gut und es hat gar nicht so wahnsinnig viel länger gedauert als eingeplant. Jede fiktionale Produktion hat ihr Eigenleben, und dass man mal ein bisschen länger dreht als ursprünglich geplant war, das ist gerade in Corona-Zeiten nichts Außergewöhnliches und hat oft auch genau damit zu tun. Da zieht es sich dann vielleicht auch mal etwas länger. Jetzt ist auf jeden Fall alles im Kasten.

„The Empress“ und „Barbaren“ wird also noch etwas dauern. Welche Produktionen gehen zeitnah online? Wie sieht der weitere Zeitplan aus?

Bekannt ist ja, dass wir am 9. März die erste internationale Adaption von „Queer Eye“ launchen mit unseren eigenen Fab 5. Die nächste fiktionale Serie die starten wird, ist „King of Stonks” - eine von der Finanzwelt inspirierte fiktionale Geschichte über Größenwahn, Narzissmus und Doppelmoral. Eine wunderbar gespielte Serie und ein wilder Ritt, bei dem es sicher gewisse Analogien zu wahren Begebenheiten gibt. Aber es würde diese Produktion unter Wert verkaufen, wenn man sie auf den Fall Wirecard reduziert. Die reale Geschichte von Wirecard wird bei uns aber auch noch Thema sein in einer Dokumentation in der der Financial Times-Journalist Dan McCrum umfassende Einblicke in seine sechsjährigen Ermittlungen gegen das deutsche Fintech-Unternehmen gibt. Genaue Timings kann ich noch nicht verraten. Aber ich kann sagen: Zum Jahresende kommt mit „1899“ ein besonderes Highlight. Da ist in Babelsberg zusammen mit Dark Ways, der Produktionsfirma des Kreativdous Jantje Friese & Baran bo Odar und ihrer extra dafür gegründeten Firma Dark Bay ein komplett neuer Produktionsstandard mit einem neu errichteten riesigen LED-Studio entstanden. Das sieht man auch schon in den Bildern, die ich sehen durfte. Dazu eine Story, die sofort packt und sich wie ein Puzzle Stück für Stück erst auflöst. 

Lassen Sie uns noch kurz über die anderen Genres sprechen. In der Non-Fiction hatte Netflix Diverses ausprobiert, jetzt liegt der Fokus ganz auf Dokumentationen?

Dokumentationen schaffen Relevanz im Lokalen, was wir schon mit „Schumacher“ gesehen haben. Das Genre ist darüber hinaus auch bei gründlicher Arbeit etwas kurzfristiger machbar als fiktionale Projekte, bei denen man erst in 18 bis 24 Monaten ein Programm vorliegen hat. Und wir erleben dank dem Trend zur Doku-Serie auch eine bislang selten gesehene Tiefe. Mit Inga Leschek haben wir eine sehr erfahrene Nonfiction-Expertin an Bord. Unter ihrer Leitung entsteht unter anderem gerade die fünfteilige True Crime-Serie “Soering”, die sich einem der spannendsten Justizdramen unserer Zeit widmet, produziert von Arne Birkenstock. Ingas Kollege Mark Edwards ist für die nonfiktionalen Filme verantwortlich, darunter die Wirecard-Dokumentation und ein Doku Feature zu Gladbeck. Außerdem arbeitet er gerade an der Doku „Facing North“ über die beiden Schweizer Extrem-Alpinisten Ueli Steck und Dani Arnold.

Insbesondere bei Wirecard und Gladbeck wird sehr kritisch beäugt, ob Netflix hier noch einmal neue Erkenntnisse liefern kann. Beide Themen wurden schon ausführlich bearbeitet.

Absolut. Dem Anspruch sind wir uns bewusst und widmen uns den Themen mit neuen Blickwinkeln und Zugängen sowie bisher ungesehenem Material.

Netflix hat auch drei neue deutsche Filmprojekte angekündigt. Ist der Ausbau des Filmangebots die Gegenbewegung zum zeitintensiven Bingewatching ganzer Serienstaffeln?

Ich würde es nicht paradigmatisch sehen. Wir wollen einem sehr heterogenen Publikum ein möglichst breites Angebot machen und da gehört Film natürlich auch dazu. Manchmal soll es Unterhaltung für einen Abend sein, dann schaut man sich z.B. „München - Im Angesicht des Krieges“ an. Ein weiteres großartiges Projekt von Sasha Bühler und ihrem Filmteam ist „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger - die erste deutsche Verfilmung des gleichnamigen Antikriegsromans von Erich Maria Remarque. Viel leichter wird „Buba“, ein Spinoff aus „How to sell Drugs Online (fast)“ mit Bjarne Mädel in der Hauptrolle. Auch die neuen Projekte darunter „Blood & Gold“, „Faraway“ und „Paradise“ könnten von den Stoffen her nicht unterschiedlicher sein. 

Frau Hofem, herzlichen Dank für das Gespräch.

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