Frau Flahive, die Anzahl der Shows und Filme, die Empowerment und Feminismus in den Mittelpunkt rücken, wächst immer mehr – ein gutes Beispiel dafür ist Ihre Serie "Glow". Was aber macht "Roar" besonders?

Es gibt Filmgenres, in denen Frauen traditionell weniger stark vertreten sind als Männer und auch heute noch stark von letzteren dominiert werden. Horror oder Western zum Beispiel. Mit "Roar" befassen wir uns mit genau diesen Genres, in denen wir uns normalerweise nicht herumtreiben. Allein das ist schon etwas besonderes. Wir verbinden untypische Genres mit surrealistischen, feministischen Fabeln über Frauen. Das ist eine Mischung, die es bisher kaum gab. Carly Mensch und ich versuchen bei jedem neuen Projekt, in das wir uns stürzen, uns nicht einfach zu wiederholen oder uns auf etwas zu stützen, was wir bereits gemacht haben. Das ist auch bei "Roar" so.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist die Anthologie-Struktur von "Roar".

Richtig, rein inhaltlich hängen die Folgen nicht zusammen. Diese Idee gehört zu dem, was Carly Mensch und mich an der Vorlage "Frauen, die ihre Stimmen erheben" von Cecila Ahern so reizte: Acht völlig unterschiedliche Fernsehepisoden zu erschaffen ist eine große Herausforderung.

Nicole Kidman in Roar © AppleTV+ Nicole Kidman in "Roar"
Warum dann nicht einfach acht Filme?

Weil alle unsere Folgen miteinander sprechen. Denn jede der Geschichten ist miteinander verwoben, das merkt man schon an den Folgetiteln, die alle mit "Die Frau, die…" beginnen. Diesen Dialog zwischen den einzelnen Erzählungen hätten wir mit acht Kurzfilmen nicht transportieren können – mit acht kurzen TV-Episoden als Anthologieserie aber schon. Das fühlt sich auch viel näher an der Vorlage an: Wenn man das Buch liest, denkt man, dass man nur eine Geschichte lesen wird. Aber alle, mit denen ich gearbeitet habe, haben viel mehr gelesen als ich dachte. So kann es auch bei "Roar" sein. Das Spannende ist also die Konversation zwischen den einzelnen Geschichten.

Wie schlägt sich das auf die Inszenierung aus?

In einer Anthologie-Serie ist es sehr wichtig, dass die Episoden einzigartig sind und sie alle ihre eigene Identität haben. Genauso wichtig ist es aber, dass sie alle durch einen bestimmten Ton miteinander verbunden sind. Bei uns ist der gemeinsame Nenner, dass wir dramatische Geschichten mit einer komödiantischen Stimme erzählen. Diesen müssen wir in jeder Folge trotz ihrer Individualität herausarbeiten – dafür sprechen Carly und ich als Showrunner bei jeder Folge mit dem Regisseur und jedem Schauspieler.

Auch inhaltlich sind die Ideen sehr verwandt.

Sie folgen alle der Linie, eine gewöhnliche Frau in einer außergewöhnlichen Situation zu zeigen: Eine Frau, die versucht, eine Stimme zu finden; eine Frau, die darum kämpft, gesehen zu werden oder eine Frau, die versucht, ihre Macht zu behalten. Bei all diesen Geschichten versuchen wir nicht, dem Zuschauer eine Lektion zu erteilen. In manchen Episoden soll er sich unwohl fühlen, mit dem Ende unzufrieden sein, Freude empfinden oder eingeschüchtert sein – was er dann daraus macht, liegt aber in seinen Händen.

 

"Roar" zu drehen war wirklich aufregend – aber auch völlig wahnsinnig.

 

Was war Ihre Strategie, um Ihren Figuren und Konflikten in nur 30 Minuten Leben einzuhauchen?

Wir brauchten für jede Folge eine neue Strategie – sowohl kreativ als auch im Bezug auf die Produktion. Alle Problemlösungen und Entdeckungen einer Folge helfen bei der nächsten kaum noch etwas. Wir haben zum Beispiel für die Folge "The Woman Who Was Fed By A Duck" herausgefunden, wie wir eine Frau und eine Ente zusammen in einer Szene filmen können, für die nächste Folge war das aber nicht mehr wichtig. Wir haben für die Folge "The Woman Who Was Kept on a Shelf" herausgefunden, auf welchem Regal Betty Gilpin sitzen sollte, das für die Kamera funktioniert. Auch das spielte in der nächsten Folge aber keine Rolle mehr. Man macht also eine Folge, erlangt ein triumphierendes Gefühl voller neuer Entdeckungen und Lösungen und fängt dann wieder bei Null an. Das war wirklich aufregend, aber auch völlig wahnsinnig.

Sich mit jeder Folge auf etwas völlig Neues einlassen – das ist jetzt auch die Aufgabe der Zuschauer, richtig? 

Das ist der Grund, warum es so viel Spaß macht, die Serie zu sehen. Man mag sich mit einer Folge mehr identifizieren als mit anderen, aber es wird nie langweilig und man bekommt nie zweimal das Gleiche zu sehen. Man befindet sich immer auf einer neuen Reise. Vielleicht ist eine davon emotional berührender oder mehr mit persönlichen Erfahrungen verbunden als andere, aber das macht den Spaß aus.

Mit welcher Episode konnten Sie sich denn am meisten identifizieren?

Roar © AppleTV+ Cynthia Erivo and Jordyn Weitz in "Roar"
Die erste Episode, die Carly und ich geschrieben haben, war "The Woman Who Found Bite Marks On Her Skin". Wir haben beide Kinder und hatten beide sehr unterschiedliche Erfahrungen damit, sie zu verlassen, um zu arbeiten. Deshalb gehörte diese Episode für uns zu den persönlicheren.

Haben Sie deshalb auch mit dieser Folge angefangen?

Wir mussten lernen, uns für die Adaption der Kurzgeschichten in sie hineinzuversetzen. Das ging mit dieser Folge am besten. So sind wir auch bei der Arbeit mit unseren anderen Autoren vorgegangen: Wir haben ihnen das Buch in die Hand gedrückt und sie gefragt, in welche Geschichte sie sich am meisten hineinversetzen konnten. Darauf basierend wählten wir dann aus.

Was ist die wichtigste Erkenntnis, die man aus "Roar" mitnehmen sollte?

Es sollte nicht nur eine einzelne Erkenntnis sein. Ich hoffe, dass "Roar" im Kopf bleibt. Dass die Geschichten nachklingen. Jede Folge ist eine Provokation – wir möchten damit erreichen, dass man darauf eingeht, ein Gespräch darüber führt oder im eigenen Leben zu diesem Thema forscht. Das ist der eigentliche Aufhänger.

Frau Flahive, vielen Dank für das Gespräch.

Alle acht Folgen von "Roar" sind seit dem 15. April 2022 bei AppleTV+ zum Streamen verfügbar.