Herr Steinbrecher, wenn eine Talkshow 1000 Mal ausgestrahlt wurde, so wie das "Nachtcafé", könnte man vermuten, dass alles gesagt ist. Sie werden widersprechen wollen?

Und zwar mit großer Vehemenz! (lacht) Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, es kommen neue Themen hinzu. Kürzlich hatten wir eine Sendung zur gereizten Gesellschaft oder zum Thema "Bloß nichts Falsches sagen!", in der es darum ging, wie wir miteinander reden. Da ging's ums Gendern und um Rassismus. Auch eine Sendung zum Thema Ehe ist heute nicht mehr die gleiche wie vor 15 Jahren. Dazu kommt, dass uns die Gäste glücklicherweise nicht ausgehen – auch, weil es bei uns vor allem um Menschen geht, die nicht bekannt sind. 

Gerade am Freitagabend ist das "Nachtcafé" ein Exot, weil Sie mit Gott und der Welt sprechen und nicht so sehr mit Promis, wie das in anderen Shows der Fall ist. Wie erklären Sie es sich, dass sich dieser Exot so lange am Markt hält?

Eine Sendung wie das "Nachtcafé" war nie wichtiger als heute, weil es noch weniger als vor zehn oder 20 Jahren selbstverständlich ist, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen austauschen. Dass sich die verschiedenen Plattformen hinweg so viele dafür interessieren, beweist, dass es ein großes Bedürfnis dafür gibt. Das zeigen unsere erfolgreichen Ableger wie die "Nachtcafé Stories" oder der Podcast, aber auch die hohen Abrufzahlen in der Mediathek und bei YouTube. Von 2015 bis 2019 hatten wir rund drei bis vier Millionen Aufrufe pro Jahr, 2021 konnten wie die Zahl auf 30 Millionen steigern. Die große Chance des "Nachtcafés" liegt deshalb darin, dass es eine Generationensendung ist. Zum einen sitzen bei uns oft 20- und 80-Jährige in einer Runde, zum anderen können wir über die unterschiedlichen Ausspielwege eben tatsächlich alle Generationen erreichen.

Haben Sie das Gefühl, dass sich die Menschen heute zu wenig zuhören?

Die Gefahr, dass wir uns in der digitalen Welt in unseren Communitys verschanzen, ist ganz real. Deshalb halte ich es für eine sehr wichtige demokratische Funktion, wenn wir Menschen, gerne auch kontrovers, miteinander ins Gespräch bringen und wir auch jenen, die eine andere Meinung haben, durchs Zuhören Verständnis entgegenbringen. Das heißt freilich nicht, dass man ihre Positionen teilen muss. 

Mit welcher Haltung gehen Sie in Ihre Sendungen?

Haltung ist ein großer Begriff im Journalismus. Im "Nachtcafé" ist es allerdings wichtig, dass wir keine Haltung vorgeben. Wir wollen den Menschen, die uns zuschauen, die Möglichkeit geben, unterschiedliche Positionen zu Themen anzuhören, um sich selbst eine Meinung zu bilden – nicht nur im Austausch der Argumente, sondern auch im Austausch der Erfahrungen. Bei uns geht es schließlich sehr stark um Erfahrungswerte, die zu bestimmten Positionen geführt haben. 

Empfinden Sie es als Luxus, anders als viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen keine tagesaktuellen Themen besprechen zu müssen?

Das ist tatsächlich ein Luxus. Es ist uns aber wichtig, die Balance zu finden. Wenn die Pandemie oder der Ukraine-Krieg Thema im Leben der Menschen sind, dann ist es schon wichtig, dass diese Themen im "Nachtcafé" auftauchen. Die Frage ist allerdings wie. Wir müssen nicht tagesaktuell sein, sondern können die Ebene dahinter wählen. Wenn wir in der Pandemie Sendungen machen über Einsamkeit oder das Vertrauen in die Medizin, dann sind diese Themen hochaktuell – ohne, dass wir groß "Pandemie-Diskussion" drüber schreiben. 

Nachtcafé © SWR/Baschi Bender Seit Michael Steinbrecher 2015 die Moderation übernahm, wird das "Nachtcafé" aus dem E-Werk in Baden-Baden gesendet.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie das "Nachtcafé" zu Ihrer Sendung gemacht haben?

Wenn man, wie ich im ZDF, sehr lange für einen anderen Sender gearbeitet hat, fragt man sich schon, wie einen die Leute ansehen, wenn man in die Kantine geht. Aber ich habe mich von Anfang an willkommen gefühlt. Und von Beginn an habe ich mir nur Gedanken gemacht über die Sendung, die Gäste und die Ausrichtung und gar nicht so sehr über mich. Vielleicht war es gewisserweise eine Rückkehr, weil ich vor meiner "Sportstudio"-Zeit fünf Jahre lang den "Doppelpunkt" moderiert habe. Die Sendung begann im gleichen Jahr wie das "Nachtcafé" und lebte ebenso davon, unbekannten Menschen ein Forum zu geben; Menschen, die sonst nicht gehört werden.

Ihr Vorgänger Wieland Backes hat einen großen Teil der Sendungen vorgelegt. Haben Sie sich im Vorfeld ausgetauscht?

Wir sind uns mehrfach begegnet und er hat sich gefreut, dass die Wahl auf mich fiel – das hat mich sehr berührt. Aber mir war von Anfang an klar, dass ihm das, was er geleistet hat, niemand nehmen kann. Das ist wie im "Sportstudio": Es gab Harry Valérien, es gab Dieter Kürten – das waren die Menschen, die diese Sendung groß gemacht haben. So wird Wieland Backes immer derjenige sein, der das "Nachtcafé" in 27 Jahren zu dem gemacht hat, was es ist.

Was hat sich an der Sendung verändert, seit Sie sie übernommen haben?

Wir haben die Zahl der Gäste reduziert. Anfangs hatten wir oft acht oder neun Gäste, haben jedoch schnell festgestellt, dass die Gäste besser miteinander ins Gespräch kommen, wenn wir uns auf weniger Menschen fokussieren. Wir haben auch das Studio noch einmal verändert, auch wenn die Möglichkeiten durch die Pandemie eingeschränkt wurden. Aber bei allen äußeren Veränderungen: Der Kern ist und bleibt der gleiche – das Gespräch zwischen interessanten Menschen, die es in dieser Konstellation zwischen Prominenten, Wissenschaftlern und Menschen, die man nicht kennt, so nicht nochmal gibt. Wir waren uns deshalb auch einig, dass es keine spielerischen Elemente braucht, die von diesem Kern nur ablenken. Wenn wir etwas weiterentwickeln, dann um diesen Kern zu stärken. 

Seit sieben Jahren moderieren Sie das "Nachtcafé", davor sogar über 20 Jahre das "Sportstudio". Sie sind vor der Kamera ein Langstreckenläufer, oder?

Ist mir auch aufgefallen. (lacht) Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich mit den Sendungen, die ich moderiere, sehr identifiziere. Das "Nachtcafé" zu moderieren, ist eine erfüllende Aufgabe und wir befinden uns in einer Aufbruchstimmung. So lange das so ist, fühle ich mich wohl. Ich möchte nie der Verwalter einer Sendung sein.

Gab es in den vergangenen Jahren so etwas wie die Sehnsucht nach dem Sport?

Ich habe genau zum richtigen Zeitpunkt mit dem "Sportstudio" aufgehört; habe aufgehört, als es alle überrascht hat. Die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher hat einmal gesagt: "Es ist der richtige Moment zu gehen, wenn noch viele Menschen sagen schade." Das ist mir im "Sportstudio" gut gelungen, denke ich. Über meinen Sohn und meine Frau, die Fußball-Fan ist, bin ich allerdings immer noch so intensiv mit dem Sport verbunden und so gut informiert wie damals – mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr persönlich recherchiere. 

Manche Ihrer Kollegen fühlen sich in der Sportwelt gar nicht mehr so wohl, gerade im Hinblick auf die anstehende WM in Katar.

Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn ich über die Begeisterung für den Fußball rede, dann ist das eine Begeisterung für das Spiel. Wenn man sich mit etwas Abstand und mit der journalistischen Perspektive das Geschäft anschaut, dann gibt es natürlich viel zu kritisieren. Da geht es um Austragungsorte, aber auch um Arbeitsbedingungen für Journalistinnen und Journalisten. Wir müssen schlicht darauf achten, nicht abgeschafft zu werden. Wenn bei Großereignissen oder Vereinen viele Interviews über die verbands- oder vereinseigenen Medien veröffentlicht werden und Journalistinnen und Journalisten immer weniger die Möglichkeit haben, kritische Nachfragen zu stellen, dann ist das schon bedenklich. 

Herr Steinbrecher, vielen Dank für das Gespräch.

"Nachtcafé", freitags um 22:00 Uhr, SWR Fernsehen