Einer der derzeit größten Fiction-Trends weltweit geht von der Türkei aus: Die sogenannten "Super Series" – aufwändig produzierte Primetime-Telenovelas – erzählen ein- bis zweimal pro Woche in 30 bis 60 Episoden eine ebenso spannungs- wie schicksalsgeladene Geschichte. Zu den erfolgreichsten Vertretern des Genres zählt "Son", das unter seinem internationalen Titel "The End" in 35 Länder verkauft wurde und als erste türkische Dramaserie überhaupt in der Primetime eines großen westlichen TV-Senders, SVT in Schweden, lief.

Die Geschichte von Aylin – die ihren Ehemann nach einem Flugzeugunglück tot glaubt, dann jedoch erfährt, dass er gar nicht an Bord war, und schließlich ein Netz von Lügen entwirren muss, um ihn und ihre Familie zu retten – erzielte so gute Quoten, dass das Format bereits mehrfach adaptiert wurde. 20th Century Fox amerikanisierte es 2015 für ABC, kam aber über den Piloten nicht hinaus. Die Chefs von UFA Serial Drama verrieten voriges Jahr im DWDL.de-Interview, dass sie an einem deutschen Remake werkeln. In Spanien und Russland starten im Herbst lokale Versionen. Als Erste gingen die Niederländer durchs Ziel: Column Film landete im September 2016 mit "Flight HS13" einen Hit auf NPO 3.

In der niederländischen Variante ist es Liv Kraamer (Katja Schuurman), deren Leben auf den Kopf gestellt wird, als ihr Mann Simon (Daniël Boissevain) zu einem Ärztekongress nach Barcelona reisen will. Sein Flug HS13 stürzt über Südfrankreich ab, alle 161 Insassen sind tot. Als die Polizei jedoch die Identitäten der Opfer bestätigt, stellt sich heraus, dass Simon den Flug gar nicht angetreten hatte. Die Überwachungsvideos vom Amsterdamer Flughafen zeigen: Er hat stattdessen eine andere Frau mit Kind abgeholt. Von da an fehlt jede Spur. Livs Trauer schlägt in Verdacht und Enttäuschung um. Sie macht sich gemeinsam mit ihrem Schwager Haje (Jeroen Spitzenberger) auf die Suche nach Antworten, die sie bis in den Iran führen wird – und schließlich auf eine riskante Mission, um Simon aus einer unerwartet großen Gefahr zu retten.

Fiction zu adaptieren, ist eine knifflige Aufgabe. Ganz besonders, wenn sie aus einem völlig anders tickenden Kulturkreis stammt. Das türkische Original ist ein gefühlsstarker Mix aus Psychothriller und Melodram, wie er dem westlich orientierten Publikumsgeschmack eher fremd ist: Zwischen den Suspense-Momenten wird hemmungslos geheult, die Augen aufgerissen und dramatische Musik eingespielt. Für die Niederlande hat ein sechsköpfiges Autorenteam die Originaldrehbücher von Berkun Oya und Deniz Alnitemiz kräftig angepasst. Die Dramatik-Amplitude wurde auf mitteleuropäisches Niveau heruntergepegelt, die Figuren und ihre Konflikte vertieft, das Erzähltempo beschleunigt. Wofür "Son" 25 Folgen à 90 Minuten brauchte, schafft "Flight HS13" in zehnmal 45 Minuten.

Dennoch bleibt erfreulicherweise ein ungewohnter Genre-Mix bestehen – und damit der Hauptgrund, warum sich die Mühen der Adaption in diesem Fall gelohnt haben. Angesichts der vorherrschenden europäischen Krimi-Monokultur wirkt es wohltuend, wenn hier das Zusammenspiel von Psychothriller- und Familiendrama-Elementen ausgelotet wird. Abgesehen von ein paar überflüssigen Nebenfiguren und einigen unmotivierten Flashbacks lösen die Autoren und die drei Regisseure – Hanro Smitsman, Iván López Nuñez, André van Duren – ihre Aufgabe recht geschickt. So sehen wir ganz am Anfang der ersten Folge eine verschleierte Frau panisch durch einen iranischen Basar flüchten. Als ihre Verfolger sie beinahe eingeholt haben, springt die Handlung drei Wochen zurück, und wir sehen dieselbe Frau – natürlich Liv Kraamer – im gediegenen Vorstadthäuschen bei den Geburtstagsvorbereitungen mit ihrem siebenjährigen Sohn Mart.

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Solche Sprünge zwischen scheinbar nicht zusammenpassenden Situationen, zwischen Extremen wie perfekter Familienharmonie und existenzieller Gefahr, machen die Spannung von "Flight HS13" aus. Zugleich lässt schon das Zusammentreffen der Familie bei Marts Geburtstagsfeier erahnen, dass manche der Beziehungen zwischen Geschwistern und Lebenspartnern offenbar dysfunktional ausfallen. Diese Problemstränge werden im Staffelverlauf analog zu Simons Geheimnis gesteigert, so dass Liv und Haje, die sich erkennbar zueinander hingezogen fühlen, zwangsläufig auch auf die unangenehmen Wahrheiten ihrer eigenen Familienverhältnisse stoßen.

Ein internationaler Ritterschlag wurde "Flight HS13" dieses Jahr zuteil, als Walter Iuzzolino, Kurator und Namensgeber der in Großbritannien und den USA verfügbaren Video-on-Demand-Plattform "Walter Presents", es als eine der 45 besten nicht-englischsprachigen Serien in sein Angebot aufnahm. Vor lauter Spannung habe er durchgehend auf der Stuhlkante gesessen, begründete Iuzzolini seine Wahl. Eine deutsche Plattform ist ihm bisher nicht gefolgt, und auch auf ein hiesiges Remake von "The End" müssen wir weiter warten.