Niemand Geringerer als "The Office"-Erfinder Ricky Gervais ließ seine 13 Millionen Twitter-Follower vor einigen Monaten an seiner Begeisterung teilhaben, nachdem er "Nobel" auf Netflix geschaut hatte. Das sei "einer der spannendsten politischen Thriller, die jemals gemacht wurden", die Regie und die Tiefe der menschlichen Gefühle in jeder Schauspielleistung seien die "natürlichsten, vielschichtigsten und großartigsten", die er je in einer Serie erlebt habe.

Gervais' Lobeshymne, die in dem dringenden Wunsch nach einer zweiten Staffel gipfelte, kann man sich vollumfänglich anschließen. Die Geschichte von Erling Riiser – Soldat und Familienvater, der ahnungslos zur Schachfigur inmitten einer internationalen politischen Verschwörung wird – hält nicht nur die elementarsten Gewissensfragen von Krieg und Frieden unters Brennglas, sondern tut das auch noch auf dem hohen Spannungsniveau der besten "Homeland"-Staffeln.

Gleich zu Beginn prallen die beiden Welten in Erlings Leben aufeinander: Der Leutnant sitzt im Lager der norwegischen Spezialkräfte im Afghanistan-Einsatz und skypt mit seinem zehnjährigen Sohn daheim in Oslo. Es geht um Alltägliches, ums Essen und um die Schule. Und dann: "Jeder fragt mich, ob ich Angst habe, Papa." Kurz nachdem Erling den Kleinen beruhigt hat, steckt er schon mitten im Anti-Terror-Einsatz auf einem Marktplatz. Den geplanten Selbstmordanschlag kann er in letzter Minute verhindern, indem er den Attentäter mit einem gezielten Kopfschuss tötet – einen Jungen etwa im Alter seines eigenen Sohns.

Drei Monate später kommt Erling zum Fronturlaub nach Hause, um Entspannung bei seiner kleinen Bilderbuchfamilie zu suchen. Ehefrau Johanne ist die rechte Hand des norwegischen Außenministers und geübt im Lösen diplomatischer Krisen. Aktuell steht ein 3-Milliarden-Euro-Handelsabkommen mit China im Zentrum der Bemühungen, das am Rande auch die geplante Ölförderung in einem befriedeten Afghanistan betrifft. Auf unheilvolle Weise scheinen sich Erlings Kriegserlebnisse und Johannes politische Arbeit gegenseitig zu beeinflussen. Von wegen Entspannung: Am ersten Abend in Oslo wird Erling in ein Hotel gerufen, in dem der Militärgeheimdienst die Frau des afghanischen Großgrundbesitzers Sharif Zamani versteckt hält. Jemand hat das Versteck an Zamani verraten, der seine Frau umbringen will. Erling rettet sie, indem er Zamani ersticht.

Was genau in den drei Monaten vor seiner Rückkehr aus Afghanistan passiert ist und zur Eskalation geführt hat, erfahren wir erst nach und nach in Rückblenden. Diese Erzählstruktur, die ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit verlangt, gibt den Rhythmus von "Nobel" vor – oder besser gesagt: die zwei Rhythmen. Auf der einen Seite Erlings erste Tage in Oslo mit hoher Dichte und ebensolchem Tempo, auf der anderen die mitunter quälende Zeit voller Misserfolge und Verluste im Kriegseinsatz. Die Drehbuchautoren Mette Bølstad und Stephen Uhlander sowie Regisseur und Ideengeber Per-Olav Sørensen verstehen es, den Zuschauer durch aktives Mitdenken und Kombinieren bei der Stange zu halten.

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Wie viel Gewalt und welche Kompromisse sind nötig, um Frieden zu schaffen? Welche Opfer sind dafür zu rechtfertigen? Und was bedeutet es heutzutage, Konflikten neutral gegenüberzustehen? Das sind einige der großen Fragen, an denen sich die Serie abarbeitet. Deren Titel kommt übrigens nicht von ungefähr: Ganz konkret mischt in der Handlung die schwer durchschaubare Vorsitzende des Nobelpreiskomitees mit, deren Interessen schon mal mit der Realpolitik kollidieren. Grundsätzlich steht Nobels Erbe in Norwegen für eine besondere Friedensverantwortung. Inwieweit das Land dieser gerecht wird, diskutiert der Achtteiler mit klarer lokaler Verortung einer universellen Gewissensfrage.

Es ist Sørensens Verdienst, dies mit gehörigem Mut zur Stilisierung zu tun. Wenn Erling zu Hause ankommt und mit seinem Sohn einen Drachen steigen lässt, dann sind Wiesen und Bäume grüner als grün – ein maximaler Gegenpol zum sandigen Wüstenton von Afghanistan. Um die professionelle Ebenbürtigkeit zwischen Erling und Johanne intuitiv zu erfassen, reichen zwei spiegelbildlich angelegte Szenen in der ersten Folge: er im Kampfeinsatz, sie im spontanen Krisenmanagement in einem Konzertsaal – beide Male hoher Puls und schnelle Entscheidungen. Und immer wieder extrem nahe, unruhige Einstellungen auf den Gesichtern der Handelnden. Mit dem intensiven Spiel von Aksel Hennie (Erling), Tuva Novotny (Johanne) und nahezu allen anderen Darstellern entsteht ein ebenso authentisch wirkendes wie visuell reizvolles Ergebnis.

Bei der Erstausstrahlung von "Nobel" im öffentlich-rechtlichen norwegischen NRK im Herbst 2016 mussten die Zuschauer jeweils eine Woche auf die nächste Folge warten. Mit Gesamtreichweiten zwischen 1,1 und 1,3 Millionen (linear und on demand) und linearen TV-Marktanteilen bis zu 45 Prozent landeten die Macher einen immensen Erfolg, der auch mit einer Rose d'Or und einem Prix Europa gekrönt wurde. Die noch bessere Dosis für "Nobel" liegt zweifellos im Binge Viewing – der Abruf bei Netflix macht's mittlerweile möglich.