Kaum ist der Überraschungshit „Chernobyl“ bei HBO gelaufen, startet beim US-PayTV-Kanal an diesem Montag die nächste Serie, um die amerikanische Fernsehfans nicht herum kommen werden - und sie ist Made in Europe. „Years and Years“ ist eine in UK gerade erst gelaufene sechsteilige BBC-Produktion aus der Feder von Russell T. Davies, der einst „Queer As Folk“ erschuf und sich damit einen Namen machte, später zeitweise „Doctor Who“ sowie das SpinOff „Torchwood“ verantwortete und zuletzt den gefeierten Dreiteiler „A very english scandal“ mit Hugh Grant und Ben Wishaw in den Hauptrollen umsetzte.



In Kürze gesagt: „Years and Years“ ist die progressive Familienserie, die Vox vermutlich gerne gehabt hätte, aber nur „Das Wichtigste im Leben“ bekommen hat. Nichts spricht gegen die moderne aber auch herzlich-konventionelle Vox-Serie, aber „Years and Years“ hebt das Genre aufs nächste Level und liefert basierend auf einem emotional packenden Familiendrama die furchteinflößenste Dystopie der vergangenen Jahre, weil sie noch näher und realistischer inszeniert ist als etwa „The Handmaid’s Tale“.

Ausgangspunkt der Geschichte ist die heutige Realität der Großfamilie Lyons aus Manchester und Umgebung. Ihr Schicksal entwickelt sich im Laufe der ambitionierten Miniserie durch eine Verkettung von bislang nie möglich gehaltener Entwicklungen der Kategorie Donald Trump oder Brexit über die folgenden 15 Jahre immer mehr zu einer Dystopie, die so schleichend kommt, dass kein Schritt für sich selbst zum großen Aufschrei führt. Es ist die Gewöhnung an den Wahnsinn, an tägliche Lügen und das Hinnehmen von Eskalation, so lange nur der eigene Alltag nicht betroffen ist, das die Serie so beklemmend macht.

Russell T. Davies spielt mit „Years and Years“ einmal durch, was schief gehen könnte. Entscheidung für Entscheidung. Konsequenz nach Konsequenz. Bindeglied zwischen den persönlichen Auswirkungen auf die Lyons-Familie und der ganz großen Weltpolitik ist über die Jahre der Aufstieg der erfrischend unverbraucht wirkenden Politikerin Vivienne Rook, grandios gespielt von Emma Thompson. Sie bedient die uns heute auch so bekannte Masche der simplen Antworten auf große Fragen ohne viel Substanz dahinter, allerdings mit Leidenschaft vorgetragen.

Die Pilotfolge verstört zunächst mit ihrer vermeintlich harmlosen Familiegeschichte und einigen absurd erscheinden Erfindungen der nahen Zukunft. Doch kaum eine erste Episode neuer Serien der letzten Zeit lässt gegen Ende das Herz so rasen wie „Years and Years“. Bis zur finalen Folge kommen immer wieder solche Schlüsselszenen, die man als Zuschauer kaum erträgt. Warum? Weil diese Dystopie nur wenige Fehlentscheidungen von unserer heutigen Gesellschaft entfernt liegt. Weil es die Frage bedient: Was wäre wenn, Donald Trump eben doch einmal ultimativ zu weit gehen würde? Und weil man nicht mehr ausschließen kann, dass manche Gedanken und Handlungen nicht wieder hoffähig werden.

In den Hauptrollen der Familie Lyons spielen viele bekannte Namen des britischen Film und Fernsehens mit, darunter Rory Kinnear, T’Nia Miller, Jessica Hynes, Ruth Madeley und Dino Fetscher sowie Anna Reid als die Großmutter der Familie und immer wieder Epizentrum der Familiengeschichten nach jenem verhängnisvollen Abend am Ende der ersten Folge. Maxim Baldry ist ukrainischer Flüchtling, der sich in den schwulen Sohn der Familie (gespielt von Russell Tovey) verliebt. Eine Familiengeschichte vor dem größtmöglichen Hintergrund, dem drohenden Untergang der Zivilisation glaubhaft zu erzählen, ist eigentlich zum Scheitern verurteilt.

Doch Showrunner Russell T. Davies und der Studio Canal-Tochter Red Production Company sind mit „Years and Years“ eine so zwingende, relevante Serie gelungen, die zwar sehr viel will aber auch liefert und deshalb schnellstmöglich auch nach Deutschland kommen muss - eine Plattform oder einen Sender gibt es bislang leider noch nicht. Die Eskalation von Politik und Gesellschaft verbunden mit dem schleichenden Gefühl, gerade hart erkämpfte Errungenschaften wieder zu verlieren, ist kein allein britisches Phänomen. Diese Serie adelt Russell T. Davies und sein Gespür für Zeitgeist. Diese Serie ist eine Warnung an die Menschheit, verpackt in einer dramatischer Serien-Dystopie, die „The Handmaid’s Tale“ beinahe wie Feel Good-Fernsehen wirken lässt.