"Und, wie habt ihr euch kennengelernt?" - Jedes Pärchen muss sich dieser Frage in seiner Laufzeit mindestens zweiunddreißig mal stellen. Manche können es gar nicht abwarten, daraufhin einen zehnminütigen Monolog zu halten, während andere verlegen zu ihrem Partner schauen und ihn mit einem flehenden Blick bitten, diesen Part zu übernehmen. Bei wiederum anderen Paaren fällt die Antwort kürzer aus, als die gestellte Frage: "Tinder". Während dieses Wort vor einigen Jahren noch eine gewisse soziale Scham auslöste, da vermeintliche Sex-App, besagen Statistiken nun, dass heutzutage die Hälfte aller Beziehungen durch dieses Online-Portal zustande kommen. "Osmosis", die französische weitergedachte Idee in Serienform, prognostiziert eine noch viel drasterische Entwicklung. 

 

"Wenn ich jemanden liebe, glaube ich, könnte ich mich verändern", philosophiert der gerade so volljährige anmutende Niels Larsen (Manoel Dupont), der sich selbst als sex- bzw. masturbationssüchtig beschreibt. Nur eine andere Person kann ihn auf einen besseren Lebensweg bringen, da ist er sich sicher. Dieser Meinung ist jeder der insgesamt zwölf Probanden für das "Osmosis"-Programm. Sie alle fühlen sich deprimiert und setzen ihnen aufgebrachte Liebe mit Glücklichsein gleich. Dafür lassen sie sich lächelnd ein Implantat in den Arm pflanzen und schlucken bereitwillig Nano-Bots, die ihr grauen Zellen erkunden sollen.

So funktioniert "Osmosis" nämlich: Durch umfangreiche Untersuchungen in die hintersten Gehirnwindungen möchten die Erfinder des Systems - das Geschwisterduo Paul und Esther Vanhove - herausfinden, wie die jeweiligen Menschen und zukünftige Nutzer ihrer Sci-Fi-App ticken. Ihr Kredo: Nur so kann eine langfristige Beziehung zu jemandem vermittelt werden, der ähnlich funktioniert. Enttäuschende drei-Wochen-Bekanntschaften werden damit ausgeschlossen. 

Diese entstehen, wenn das Herz seine Finger im Spiel hat, suggeriert Showrunnerin Audrey Fouché ("Borgia"). "Osmosis" ist demnach eine logisch funktionierendes Programm und keine fehleranfällige App wie Tinder - wo der Mensch noch nach Intuition entscheidet und sich nicht selten im Nachhinein darüber beschwert, einen 'Fuckboy' kennengelernt zu haben. Nachdem Tinder die technische Weiterentwicklung des Ansprechens in einer Bar darstellt, ist Osmosis die prognostizierte Fortsetzung der virtuellen Kommunikation. 

Fouché versteht es dabei hervorragend zu zeigen, wie sehr das Schlagwort 'Kommunikation' dabei immer weiter in den Hintergrund gerät. Spricht man bei Tinder immerhin noch über gewisse Themen, bevor es zu einem reellen Treffen kommt, ist Osmosis solange ein auf Distanz haltender Vermittler, bis es zu einem Treffen kommt. Der Großteil der Menschheit hat den Hang dazu, weniger reden zu wollen, um Fehler vermeiden zu können. Wie ärgerlich wäre es auch, die Chance bei der vermeintlichen Traumfrau zu verlieren, nur weil man einen schlechten Scherz gemacht hat?

"Osmosis" verpackt dieses Gefühl der Angst vor einem lieblosen Leben beinahe ideal. Liebe wird dabei immer mit Glück gleich gesetzt, was zu Anfang eine generelle Frage aufwirft: Stimmt das? Wer hier mit 'Ja' antwortet, hat es auf jeden Fall schwieriger im Leben zufrieden zu sein, als die Gegenseite. Dass die 'Ja'-Sager ihre Antwort noch einmal überdenken sollten, zeigt auch der weitere Verlauf von "Osmosis".

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Denn während am Anfang alles danach aussieht, dass die App ihren Dienst zu bester Zufriedenheit leistet, stellen die Probanden mit zunehmender Laufzeit des Experimentes fest, dass sich hinter Osmosis mehr als nur ein Dating-Service verbirgt. Dabei versteht es Fouché wunderbar, das Szenario derart Sci-Fi-esk zu halten, dass ein ausgeglichener Balanceakt zwischen fiktiver Unterhaltungsstory und lehrreichen Gesellschaftsumfragen möglich ist. 

Einzig der Vergleich zu "Black Mirror" wird "Osmosis" nicht gerecht. Beide Produktionen können nicht nur vom Budget her nicht auf ein Podest gestellt werden, sondern vor allem inhaltlich. Während "Black Mirror" innerhalb von 60 Minuten pointiert auf eine Problematik unserer sozialen Umstände eingeht, nimmt sich "Osmosis" acht Mal so viel Zeit - was einigen Zuschauern als orientierungslos vorkommen kann. Ganz klar: Ein Faible für das Thema und mittelhoch finanzierte Sci-Fi-Episoden sollte vorhanden sein, damit einen das Netflix-Werk aus Frankreich überhaupt packen kann. 

Sollte diese Hürde genommen werden können, entfaltet sich mit "Osmosis" eine Dystopie, die sich aus einem leicht anderen Blickwinkel auch als Utopie entpuppen kann. Denn während sich die eine Hälfte (überwiegend Frauen) darüber beschwert, dass sie nicht mehr im echten Leben angesprochen wird, freut sich die andere (meistens Männer) darüber, alles vollkommen risikolos über das Internet abwickeln zu können. Wie sehr sich unsere Gesellschaft durch Gadgets wie diese verändern wird, und ob das schließlich positiv oder negativ ausgeht, bleibt abzuwarten. Fouché hat mit "Osmosis" jedoch einen der ersten Ausblicke geliefert, nach dem sich jeder hinterfragen sollte, ob er mit seiner Weltansicht in naher Zukunft in einer Utopie landen wird, oder in einer Dystopie. 

Die erste Staffel von "Osmosis" kann bei Netflix gestreamt werden.