Es ist nicht leicht, jemanden für "Line of Duty" zu begeistern. Und zu begründen, warum diese englische Polizeiserie zum Besten gehört, was das europäische, bzw. britische Fernsehen je produziert hat. Es hat sicher mit der gelungenen Mischung aus Action und Verhör-Kammerspiel zu tun. Mit der Tatsache, dass es in "Line of Duty" keine unmittelbaren Gewinner und Verlierer gibt. Dass die Serie meist keine Partei ergreift, nicht belehrt, sondern allein auf die Neugier der Zuschauenden setzt. Damit, dass die Staffeln angenehm kurz sind und die Besetzung erstklassig.

In jedem Fall ist "Line of Duty" ein großer Publikumserfolg in Großbritannien. Die Serie besteht bisher aus sechs Staffeln, das letzte Season-Finale lief gerade erst im Mai bei BBC One vor stolzen 12,8 Millionen Zuseher:innen und übertrumpfte damit nicht nur sich selbst, sondern erreichte einen landesweiten Rekord für Dramaserien.

Die Fakten vorab: "Line of Duty" (auf deutsch etwa "In Ausübung der Plicht") ist eine britische Krimiserie von Gerald „Jed“ Mercurio. Sie spielt in einer nicht genannten englischen Großstadt und portraitiert eine Spezialeinheit der Polizei, die Korruption in den eigenen Reihen bekämpfen soll: die AC-12. Nicht selten muss das Team um DC Kate Fleming (Vicky McClure), DS Steve Arnott (Martin Compston) und SI Ted Hastings (Adrian Dunbar) dabei ungewöhnliche Methoden anwenden und die Grenzen von Gesetz und Moral ausdehnen, um ans Ziel zu kommen.

Der britische Autor und Produzent Jed Mercurio hat neben "Line of Duty" mit der 6-teiligen Miniserie "Bodyguard" (BBC/Netflix) von 2018 auf sich aufmerksam gemacht. Schon da brach die Final-Folge Quotenrekorde; und es scheint eine besondere Qualität von Mercurio-Serien zu sein, dass seine Staffel-abschließenden Episoden immer noch irgendeine unglaubliche Wendung mit sich bringen - oder schlicht überlang sind: die letzten Folgen der "Line of Duty"-Staffeln 3 und 5 sind plötzlich nicht 60, sondern 90 Minuten lang, die Staffel 6 hat sogar sieben statt wie sonst sechs Folgen. 

Die erste Staffel besteht sogar nur aus fünf Episoden: Die Serie begann nämlich 2012 mit einer Art Duldungs-Season auf BBC 2, dem "offigeren" der zwei britischen Hauptkanäle, und eben weil "Line of Duty" selbst dort zunächst nicht vorne im Schaufenster stand, erfolgte die europäische Vermarktung über kleinere Portale: in Deutschland war es der Sender 13th Street, der die Reihe erstmals im November 2014 zeigte, ein halbes Jahr später folgte ZDFneo, jedoch nie vor 23:00 Uhr. In diesen Tagen sendet das ZDF die 4. und 5. Staffel in der Nacht zum Mittwoch um 04:10 Uhr. Kurzum: die Serie litt schlicht an ihrer dramaturgischen Finesse und der daraus resultierenden Unprogrammierbarkeit; und das änderte sich auch nicht, als "Line of Duty" in England mit Staffel 4 endlich zu BBC One wechselte, was einer Beförderung zur höchsten Besoldungsstufe gleichkam. 

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Auch die DVD-Editionen von "Line of Duty" sind ein Missverständnis: sie wurden hierzulande mit der Unterzeile „Cops unter Verdacht“ ausgestattet, die Titelfotocollagen wurden von Designern entworfen, die die Serie nie gesehen hatten: sie zeigen telefonierende Menschen vor nächtlicher Skyline, um optisch an „CSI“, „Law and Order“ oder andere längst ausrangierte TV-Hits zu erinnern. 

Und in der Tat ist es auch keine Leistung, eine weitere Cop-Serie in England zu erfinden; aber der besondere Dreh an "Line of Duty" besteht in der Tatsache, dass die eigentlichen Hauptfiguren der Serie nicht unbedingt das Team Fleming, Arnott und Hastings sind, sondern ihre üblichen Verdächtigen: Polizist:innen, die sich nicht an die Regeln halten, die möglicherweise Spitzel sind oder dem organisierten Verbrechen in die Hände spielen. Oder Straftäter hinrichten, wenn gerade niemand zuschaut, weil sie der englischen Rechtsprechung nicht vertrauen. 

Und eben diese Figuren sind Staffel für Staffel hochklassig besetzt: etwa mit Lennie James („The Walking Dead“), Stephen Graham („Boardwalk Empire“), Thandiwe Newton („Westworld“), Jason Watkins („Des“, „The Crown“), Daniel Mays („1917“), Kelly Macdonald („Boardwalk Empire“) oder Craig Parkinson („Black Mirror: Bandersnatch“).
 
Die Schauspielerin Jessica Raine bekam einen Kurzauftritt in der zweiten Staffel von "Line of Duty" (niemand wird ihn je vergessen), zuvor hatte sie ihre Hauptrolle im BBC-Historiendrama „Call the Midwife“ aufgegeben. Auch Serienveteran George Costigan, der eher aussieht, als spiele er bei "Inspector Barnaby" einen Zausel-Opa, der nicht mit dem Jagdgewehr umgehen kann, darf hier den Ex-Polizisten Patrick Fairbank spielen: einen Pädophilen, der in der letzten Folge der dritten Staffel so fantastisch im Verhörraum der AC-12 Schicht für Schicht auseinandergenommen wird, in Echtzeit. 

Überhaupt ist der Verhörraum in "Line of Duty" ein gleichwertiger Hauptdarsteller, dort spielen die besten Szenen: höchst konzentrierte Frage- und Antwort-Dialoge, und alle werden auf einer ausgelutschten Tonbandkassette Marke „Neal“ festgehalten; mit einem alten Recorder, der zum Aufnahmestart jedesmal ein schreckliches Tuut-Signal abfährt, was schrecklich an den Nerven zerrt. Fans nennen dieses Element „The Thrill of the Tape“.

Und vergessen wir nicht den Schauspieler Henry Miller, der den schlechtesten Anwalt der Fernsehgeschichte in eben diesem Verhörraum spielen durfte: einen Narkoleptiker, der seinem Klienten nicht zuhören kann. Ein ganz kleiner, aber großer Moment, so verstörend wie die ganze Serie.  

Doch überstrahlt wird all dies von der Polizistin Lindsay Denton, die einzige Überlebende eines Attentats auf einen Polizeikonvoi, die unversehens zur Hauptverdächtigen in diesem Fall wird. Gespielt wird sie von Keeley Hawes, und diese Besetzung war entscheidend für die Serie: Hawes wurde ab Staffel 2 das Gesicht von "Line of Duty" und brachte eine neue Qualität, die die Serie von allen anderen Cop-Dramen unterschied: eine vollkommen uneindeutige Figur, die man weder mögen noch ablehnen konnte.

Produzent Mercurio besetzte Hawes später in seiner Hitserie "Bodyguard" als Innenministerin Julia Montague erneut. Und doch ist das "Line of Duty"-Universum schlüssiger, kräftiger, besonderer als der Hochglanz-Personenschutz-Thriller mit „Game of Thrones“-Star Richard Madden, der der viel größere Aufschlag war.

Ich habe "Line of Duty" daher über Jahre immer wieder wie Sauerbier angepriesen, speziell in Serien-Plauderpodcasts. Doch mein unverhohlenes Engagement für diese versteckte UK-Serienperle brachte nichts. Jetzt springt mir endlich Queen Elisabeth II. zur Seite, sie wurde erst in diesem Frühjahr Fan der mitunter recht brutalen Dramaserie, als sie sich von dem Tod ihres Ehemannes und den Wirren um Harry und Meghan ablenken wollte: Und das obwohl die BBC-Webseiten bereits im April versehentlich einen Monster-Spoiler zum Finale der 6. Staffel verbreitete.  

Wie es in England mit "Line of Duty" weitergeht ist unklar: Mercurio hat unterdessen mit "Bloodlands" eine weitere Reihe für BBC One produziert, auch hier schauten rund neun Millionen Zuschauer:innen zu, eine zweite Staffel der in Nordirland spielenden Polizeiserie mit James Nesbitt („The Missing“) und Lorcan Cranitch („Für alle Fälle Fitz“) ist bestätigt. Womöglich pausiert "Line of Duty" wieder einmal. Wie zwischen den Staffeln 4 und 5, als "Bodyguard" dazwischenkam.   

Also werbe ich munter weiter. Für England. Und die AC-12!   

"Line of Duty" ist nur in chronologischer Reihenfolge verständlich. Die ersten fünf Staffeln sind bei Amazon Prime Video abrufbar. Alle sechs Staffeln gibts auch auf DVD, die 6. allerdings noch nicht auf deutsch.