Wenn Eltern ihre Kinder in die Schule schicken, betrachten sie es heutzutage als völlig normal, dass Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet werden. Das war nicht immer so. In weiten Teilen Deutschlands wurde die Koedukation erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt. Ein historischer Übergang mit jeder Menge Culture-Clash-Potenzial. Da es in Frankreich nicht viel anders lief, witterte Drehbuchautorin und Showrunnerin Marie Roussin eine handfeste Serienidee, als sie in der Zeitung las, wie eine Schule sich damit brüstete, dass sie Anfang der 1960er Jahre die erste Oberschule im ganzen Département war, die koedukativ wurde.

Roussin, die als Autorin schon an "Lupin", "Un Village Français", "Borgia" oder "Les Bracelets Rouges", dem französischen "Club der roten Bänder", mitwirkte, stellte Nachforschungen an und fand dabei nach eigenen Angaben heraus, dass es sich "um eine gewaltige Revolution handelte, sowohl in pädagogischer als auch in soziologischer Hinsicht". Besonders beeindruckte sie der Umstand, dass der große Schritt "total improvisiert" vollzogen wurde: "Jeder Schulleiter entschied selbst, was er tun wollte." Roussin hat die dankbare Vorlage in einen unterhaltsamen Mix aus Teenie-Drama und Familienkomödie verwandelt – mal urkomisch, mal nostalgisch, mal aufrüttelnd.

"Mixte" – das erste rein französische Amazon Original nach der verunglückten deutsch-französischen Koproduktion "Deutsch-les-Landes" – spielt zu Beginn des Schuljahrs 1963 am fiktiven Voltaire-Gymnasium, wo erstmals gemischte Klassen eingeführt werden. Genauer gesagt: Elf neue Mädchen stoßen in der Kleinstadtschule auf über hundert Jungen, die dort bisher unter sich waren. Die vermeintlich progressive Entscheidung von Schulleiter Jacquet (François Rollin) findet nicht nur Zustimmung: Studiendekan Paul Bellanger (Pierre Deladonchamps) sorgt sich ernsthaft vor moralischer Verwahrlosung. Und Neuzugang Michèle (Léonie Souchaud) bekommt von ihrem Bruder Jean-Pierre (Baptiste Masseline) am ersten Schultag zu hören, dass sie die Schule doch gar nicht brauche, um im Feinkostladen der Eltern zu arbeiten.

Die Serie, die Amazon hierzulande unter dem Titel "Voltaire High – Die Mädchen kommen" veröffentlicht, betrachtet das soziale Real-Life-Experiment durch zwei Linsen: Schüler wie Lehrer haben ihre jeweils eigenen Kämpfe, Komplexe und Geheimnisse. Neben Michèle und Jean-Pierre gibt es die schöne Annick, die den Jungs reihenweise den Kopf verdreht, die lebenslustige Simone, die Michèle bei der Befreiung vom bürgerlichen Korsett hilft, den fiesen Joseph, den verwöhnten Didier oder den sensiblen Außenseiter Henri – allesamt gespielt von einem starken jungen Ensemble.

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Aufseiten des Lehrpersonals wiederum tummeln sich der phlegmatische Schulleiter, der am liebsten delegiert; der hochnäsige Lateinlehrer, der sich weigert, einer Schülerin das Wort zu erteilen, obwohl sie die einzige ist, die die richtige Antwort weiß; der strenge und frustrierte alte Geschichtslehrer; und eben der von Deladonchamps verkörperte, leicht verklemmte Paul Bellanger, den die Ankunft der neuen, attraktiven Englischlehrerin, Fräulein Couret (Nina Meurisse), sichtlich beunruhigt, während er in einer Art Scheinehe mit Schulkrankenschwester Jeanne (Maud Wyler) lebt, um deren Homosexualität vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Die große Stärke der Serie liegt darin, dass sie zwischen klassischen Highschool-Konflikten und Teenie-Romanzen genügend Raum findet, um Schlaglichter auf Sexismus im gesellschaftlichen Wandel zu werfen. Vordergründig zeigt "Voltaire High" eine vergangene Ära, in der Frauen ihren selbstverständlichen Platz in der Küche oder allenfalls an der Ladenkasse hatten und in der schwul-lesbische Beziehungen als Tabu galten. Weil Roussin jedoch gleichzeitig eine Erzählweise, eine Visualität und einen rockigen Soundtrack wählt, die sehr heutig wirken, fordert sie ihr Publikum dazu heraus, patriarchalische Strukturen und Geschlechterklischees zu überdenken, die trotz äußerlicher Veränderung fortbestehen. Die Suche, von der hier die Rede ist, erscheint insofern höchst aktuell.

"Voltaire High – Die Mädchen kommen", ab 10. September bei Prime Video