Es gibt Klischees über Finnen und ihre Nation, an denen auch Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki nicht so ganz unschuldig sind. Wer „Night on Earth“ oder „Der Mann ohne Vergangenheit“ realistisch findet, hält Land und Leute womöglich für Inbegriffe einer fatalistischen Melancholie, die ersteres in alkoholisierter Lethargie ertränkt, was letzteren jede Kraft zum Aufruhr raubt. Elias Karo bildet da die Ausnahme der Regel, dass finnische Fiktion und Wirklichkeit übereinstimmen. Schließlich nimmt er das Heft seiner desperaten Lage selbst in die Hand.

Weil faule Kredite ruchloser Banken seine Firma in den Ruin und Vater Pekka in den Suizid getrieben haben, vermint der Sohn das Redaktionsgebäude einer wichtigen Helsinkier Zeitung und zwingt vier Journalisten, mit Waffengewalt übers menschenverachtende Finanzsystem zu schreiben, das Finnlands Mittelschicht seit 1992 ausbluten lässt. So startet ein Serienthriller mit antikapitalistischer Stoßrichtung, den Beta-Film in Kooperation mit NDR, Arte und dem ortsansässigen Sender YLE acht Teile à 50 Minuten lang erzählt.

Vor allem aber ist es ein Stoff, den Drehbuchautor Mikka Oikkonen in Anlehnung ans „Stockholm-Syndrom“ genannte Verbrüderungsphänomen zwischen Geiseln und Geiselnehmern nicht zufällig „Helsinki-Syndrome“ nennt. Unter Juuso Syrjäs Leitung, mit dem Oikkonen 2016 bereits die Grenzkrimiserie „Bordertown“ zum Straßenfeger machte, hegen nämlich nicht nur Karos Opfer stille Sympathien für ihrem Kidnapper; auch die Öffentlichkeit solidarisiert sich mit diesem David im Kampf gegen den Goliath Bad Banks.

Während „Vikings“-Star Peter Franzén seine Gefangenen Hanna (Oona Airola), Gusse (Eero Saarinen) Evelina (Tuulia Eloranta) und Anne (Laura Malmivaara) zur publizistischen Zwangsarbeit verdonnert, entsteht zwischen dem Polizeieinsatz des Entführungsspezialisten Kiiski (Taneli Mäkelä) und Rückblenden in Karos Werdegang zum Kapitalverbrecher ein Politdrama über die Staatskrisen der vergangenen Jahrzehnte. Und das mag Regisseur Syrjä als genretypisches Stück Skandi Noir inszenieren; von den Klischees über finnische Filmfiguren bleibt am Ende nichts übrig.

Was wiederum weniger daran liegt, dass die Handlung (natürlich) andere Wendungen nimmt als der biblische Krieg Wal vs. Winzling. Mit dem düsteren, rückständigen, verkapselten, dauerbedeckten Nacht-Helsinki von Jarmusch oder Kaurismäki hat dieser Drehort nur am Rande zu tun. Es ist ein helles, modernes, aufgeschlossenes, oft sonniges Gewinner-Helsinki voll ehrgeiziger Charaktere wie der Starreporterin Hanna, die Karo durch Finnlands Kapitale schickt, um nach einer fehlenden Seite im Recherchematerial zu suchen.

Weil die weibliche Hauptdarstellerin, ebenfalls bekannt aus „Bordertown“, trotz Kabelbindern und Ortungstrackern am Bein ihre journalistischen Jagdinstinkte behält, ist „Helsinki-Syndrome“ also vor allem ein Stück über die vierte Gewalt zwischen ökonomischer und politischer Sphäre. „Macht eure Arbeit und findet die Wahrheit“, brüllt Elias, als Hanna mutmaßt, seine Bank habe womöglich gar nichts Illegales getan, „das ist euer Job“. Und den erledigen sie tatsächlich, als sei der Entführer ihr Chefredakteur.

Noch beachtlicher ist jedoch, dass dieses dünnbesiedelte Riesenland mit weit weniger Einwohnern als Niedersachsen so hochwertiges Fernsehen produziert. Selbst im englisch untertitelten Original brilliert „Helsinki-Syndrome“ daher mit einer Atmosphäre, die gleichsam fesselt und sediert. Die Actionelemente in Augenblicke größter Ruhe einstreut und ohne Effekthascherei ein paar alte Klischees über den Standort beseitigt. Das wichtigste: Vorurteile sind immer von gestern. Finnland ist längst von morgen. Auch fiktional.

"Helsinki-Syndrome" läuft demnächst bei Arte, einen genauen Sendetermin gibt es noch nicht.