Die Gräber prominenter Köpfe von Frédéric Chopin über Oscar Wilde bis Jim Morrison machen den Père Lachaise in Paris zum meistbesuchten Friedhof der Welt. Ein paar Wissende unter den mehr als 3,5 Millionen Besuchern jährlich schauen auch an der Grabstätte von Malik Oussekine vorbei, dessen Name an einen schweren Schandfleck der französischen Polizei und Regierung unter Staatspräsident Mitterand erinnert. Der 22-jährige Student algerischer Abstammung wurde am 6. Dezember 1986 von bewaffneten Polizisten gejagt und brutal zu Tode geprügelt – obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Eine denkbar kraftvolle Erinnerung an seinen Fall sowie an die verheerenden Folgen rassistisch motivierter Staatsgewalt liefert Autor und Regisseur Antoine Chevrollier mit seinem Vierteiler "Oussekine", dem dritten französischen Disney+ Original. Es sei ein "dunkles Kapitel in unserem nationalen Geschichtsbuch" und daher so wichtig zu zeigen, was damals geschehen sei, findet Chevrollier, der schon bei den "Made in Europe"-Empfehlungen "Baron Noir" und "Le Bureau des Légends" Regie führte. Niemand habe bisher filmisch erzählt, wer Oussekine war, so wie Geschichten von Einwanderern generell zu kurz kämen, beschreibt der Showrunner seine Motivation.

Ende 1986 ist die Lage in Frankreich angespannt: Im ganzen Land herrschen seit Wochen Studentenproteste und teils gewalttätige Demonstrationen gegen eine geplante Universitätsreform der Regierung. Die Hochschulen sollen mehr Autonomie bekommen, um höhere Studiengebühren und eine strengere Auswahl bei der Zulassung zum Studium einführen zu können. In der Nacht vom 5. zum 6. Dezember kommt es zur tragischen Verkettung der Ereignisse: Eine motorisierte Sondereinheit der Pariser Polizei soll die Straßen im Studentenviertel Quartier Latin "säubern", wo Malik – zwar Student, aber an keinerlei Protest beteiligt – nach einem Konzert aus seinem Lieblingsjazzclub kommt. 

Was dann passiert, erzählt die Miniserie nicht sofort, sondern verwoben in eine geschickte Konstruktion aus mehreren Zeitebenen. Wir bekommen zunächst per Rückblende ein Gespür für die arabisch geprägte Familientradition und für den Umstand, dass schon Maliks Elterngeneration mit Fremdenhass konfrontiert war. Und ehe wir Stück für Stück mehr über die konkreten Vorkommnisse der Todesnacht erfahren, müssen wir gemeinsam mit Maliks Geschwistern Sarah, Ben Amar und Mohamed sowie seiner Mutter Aïcha in quälender Sorge abwarten. Die Behörden spielen auf Zeit und greifen zu jeder nur denkbaren Verschleierungstaktik. Obwohl Malik so schlimm massakriert wurde, dass er sofort an seinen Verletzungen starb, bekommt die Öffentlichkeit von Herzversagen infolge einer Nierenschwäche zu hören. Ben Amar wird derweil verhört, als sei er der Bruder eines Terroristen.

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Chevrolliers Konzept ist dabei weitaus vielschichtiger als die Storyline des unschuldigen Opfers in einem ideologisch aufgeheizten Kulturkampf. Vom Polizeivergehen an Oussekine ausgehend, greift er die eskalierenden gesellschaftlichen Unruhen auf, zeigt wie unterm Brennglas, wie sich die Sicherheitsbehörden mit ihrer verlogenen Defensivstrategie ins Aus manövrieren und wie Maliks Familie mit Hilfe des politisch engagierten Rechtsanwalts Georges Kiejman einen harten, drei Jahre währenden Kampf um Gerechtigkeit aufnimmt. Chevrollier tut all dies in so dichter, eindringlicher Atmosphäre, dass das Zuschauen mitunter wehtut, aber gleichzeitig eine nach vorn treibende Spannung vom Pausieren abhält.

Von "Le Monde" gelobt als ein "Spiegel, der Frankreich durch die Zeit hindurch vorgehalten wird", kommt "Oussekine" komplett ohne aufgesetzte Message oder Moralität aus. Um ebenso sensibel wie unparteiisch erzählen zu können, hatte Chevrollier über vier Monate jeden Sonntagnachmittag mit Maliks beiden Brüdern verbracht und im selben Zeitraum etliche Gespräche mit den betroffenen Polizeieinheiten geführt. Auf diese Weise wollte er nach eigenem Bekunden vermeiden, die "abgehobene Perspektive eines Idealisten" einzunehmen.

Dass diese Mission so wundervoll gelungen ist, liegt auch an den authentisch und nahbar wirkenden Darstellungen der Figuren, allen voran der von Sayyid El Alami (bekannt als syrischer Sektenanhänger Jibril aus der US-Netflix-Serie "Messiah") gespielte Malik Oussekine, Hiam Abbass (die Patriarchengattin Marcia Roy aus "Succession") als dessen Mutter Aïcha und Kad Merad (der Hauptdarsteller von "Baron Noir" und "Willkommen bei den Sch'tis") als Anwalt Kiejman.

"Oussekine", bei Disney+ / Star