Ein melancholisches Bild seines Lebens in Paris eröffnet "Queen Sylwester kehrt zurück": Unsere Hauptfigur Sylwester Bork, hinreißend gespielt vom polnischen Schauspielstar und Theater-Intendanten Andrzej Seweryn, hat es vor Jahrzehnten von Polen nach Paris geschafft und sich dort verwirklichen können - als geschätzter Schneider wie auch gefeierte Drag Queen Loretta. Doch nach wilden Jahren ist die Zeit für den Ruhestand ist gekommen, ein Haus an der Côte d'Azur bereits gekauft und die Melancholie des Abschieds hat eingesetzt. Zwischen Lebensfreude und Abschiedsschmerz steigt die polnische Netflix-Serie  atmosphärisch ein wie ein stilvoll gealtertes SpinOff von "Emily in Paris".

Doch ein Brief ändert den Lauf der Dinge. Sylwester wird eingeholt von seinem vergessen geglaubten Leben in Polen. Das hatte er einst hinter sich gelassen als seine Freundin schwanger war. Sein Kind hat er nie kennengelernt und dass er inzwischen eine Enkelin hat, erfährt er erst durch ihren Brief. Die Mutter, seine Tochter, brauche einen Nierenspender und die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass er helfen könne. "Was hast du schon zu verlieren" fragt sein bester Freund in Paris als Sylwester ihm vom Brief erzählt und zögert. "Mich selbst", antwortet dieser, seufzt und packt trotzdem die Koffer um in die alte Heimat zu reisen. 

Geschrieben wurden "Queen Sylwester kehrt zurück" vom isländischen Filmemacher Árni Ólafur Ásgeirsson, der Polen gut kennt, weil er dort studierte. Man merkt der Geschichte die Kenntnis an, weil sie glücklicherweise nie in ein schemenhaftes Bild von eindeutig gut und eindeutig böse abdriftet. Es geht im großen Ganzen um Angst vor Veränderung, das Suchen von Schuldigen und Verantwortung. Im April vergangenen Jahres verstarb Ásgeirsson dann im Alter von nur 49 Jahren und hat die Umsetzung seiner Serienidee, die erst vor wenigen Wochen online ging, nicht mehr erleben können. Eine Widmung eröffnet daher auch die erste Folge der Netflix-Serie. 

Zurück in die Geschichte: Angekommen in der früheren polnischen Heimat wird Sylwester empfangen von einer euphorischen Enkelin, einer ahnungslosen Tochter und einer widerspenstigen Schiebetür im besten 2 Sterne-Hotel der Stadt. "Schwuchtel"-Graffitis auf den Straßen der kleinen Stadt erinnern ihn schnell daran, warum er hier einst geflohen ist. Plötzlich wird Sylwester aber auch wieder daheim in Paris gebraucht - und aus dem wenige Tage entfernten Ruhestand droht ein Unruhestand zu werden. Die Geschichte von "Queen" entspinnt sich auf mehreren Ebenen - gesellschaftlich, wirtschaftlich und sehr persönlich - und macht so aus einer zunächst einmal oft gesehenen "Fish out of Water"-Prämisse, doch etwas Besonderes. 

Das liegt am besonderem Stil und Spiel - und weil sie an sich ein mutiges Unterfangen für eine polnische Serie ist. Wir reden von einem Land mitten in Europa, in dem sich 80 Gemeinden - vornehmlich im Südosten Polens - zur LGBT-freien Zone erklärten. Nicht von radikalen Randgruppen sondern führenden Politikerinnen und Politikern. Die ARD hat sich 22 Jahre nach "Queer as Folk" für den Mut gefeiert, eine schwule Serie in die Mediathek zu stellen. Dass Netflix in einer der ersten polnischen Produktionen diese Geschichte erzählt, hat eine ganz andere Fallhöhe.

"Queen Sylwester kehrt zurück" könnte als Original eines US-Streamingdienstes in Polen natürlich auch bequem ignoriert werden von denen, die nichts wissen wollen von Vielfalt einer Gesellschaft und einen Krieg gegen Gleichberechtigung und Vielfalt führen. Doch die Aufregung in Polen zeigt: Allein das - und mit wem - diese Mini-Serie umgesetzt wurde, sorgte für Aufsehen.

Hauptdarsteller Andrzej Seweryn gehört schließlich zu den profiliertesten Schauspielern und Kulturschaffenden Polens und agiert auch als Intendant des Polski Theatre in Warschau. Mit seinen 76 Jahren fällt es schwer, ihm flüchtigen Zeitgeist bei der Wahl seiner Projekte zu unterstellen. Und ähnliches gilt eben auch für seine Rolle: Dass die LGBTIQ+-Community keine moderne Erscheinung sondern Historie hat, spiegelt sich in Hauptfigur Sylwester so wunderbar.

Die Mini-Serie mit ihren vier Folgen ist ein erquickendes Vergnügen mit Herz, maßgeblich getragen vom fantastisch spielenden Hauptdarsteller. Sie mag manchen nicht als die progressivste Serie zum Thema LGBTIQ+ erscheinen, doch für eine polnische Serie ist es ein Paukenschlag. Mit dem Wissen im Hinterkopf drückt man Sylwester gleich doppelt die Daumen: Dass er sein Leben, seine Lieben und den verdienten Ruhestand sortiert bekommen möge einerseits. Und dass er dabei so viele queerfeindliche Menschen in Polen aufregen möge. 

Die vier Folgen von "Queen Sylwester kehrt zurück" sind bei Netflix abrufbar