Der Weg zur TV-Legende führte drei Treppen hoch, durch lange Gänge, um viele Ecken herum und an noch mehr Büropflanzen vorbei. Dass "der Herr Dr. Thoma" nun für seinen Gast bereit sei, wiederholten vom Pförtner bis zur Sekretärin alle so beflissen, als folgten sie der alten Theaterregel "Den König spielen immer die anderen." Kam man als junger Berufsanfänger – wie ich im Sommer 1994 in Diensten des ein Jahr zuvor gegründeten "Focus" – entsprechend eingeschüchtert beim barock hinter seinem Schreibtisch thronenden Mister Privatfernsehen an, so löste dieser sofort jede Anspannung mit einem aufmunternden "Wos woins wiss'n?"

Der Mann, der im Vorjahr erstmals an ARD und ZDF vorbeigezogen war und sein RTL – noch recht frisch ohne das "plus" im Namen – zur Marktführerschaft im deutschen Fernsehen bugsiert hatte, wurde auf Anhieb mein Lieblingsinterviewpartner. Das hieß damals noch nicht viel, so viele Interviews hatte ich mit 19 ja noch nicht geführt, blieb aber auch etliche Jahre später so. Denn Gespräche mit Helmut Thoma waren immer ein Erlebnis. Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt?!, schoss es mir mehr als einmal durch den Kopf. Etwa 2001, als er den L.A. Screenings im Auftrag von NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement die neuen Cologne Screenings entgegensetzen wollte und mir in den Block diktierte: "Dass da immer alle brav für viel Geld nach Los Angeles dackeln, um sich Programme anzuschauen, ist doch absurd." Oder auch im letzten Interview, 2013 für DWDL.de, als er die Zerschlagung von RTL und ProSiebenSat.1 forderte und über das Programmangebot resümierte: "Dafür hätte meine Vorstellung gar nicht ausgereicht, dass man stundenlang einem Immobilienmakler oder einem Schuldnerberater zuschauen könnte. Warum eigentlich nicht auch mal einer Toilettenfrau?"

Bis seine lautstarke wienerische Stimme für immer verstummte, blieb Thoma eine imposante One-Man-Show. Nie um einen flotten Spruch verlegen, stets wortstark darin, die Rivalen im Öffentlich-Rechtlichen, im Privaten oder in der Medienpolitik abzukanzeln. Und auch die eigenen Nachfolger. So gut wie unter Thoma war's bei RTL laut Thoma nie wieder. Wobei er mit der nachträglichen Selbsterhöhung ja nicht ganz unrecht hatte. Was wäre RTL ohne das tägliche Gerüst aus "Punkt 12", "Unter uns", "Explosiv", "Exclusiv", "RTL Aktuell" und "Gute Zeiten, schlechte Zeiten"? Allesamt zwischen 1988 und 1994 unter Thoma eingeführt und Jahrzehnte später nach wie vor auf Sendung. Eine vergleichbare Bilanz hat hierzulande kein zweiter TV-Manager vorzuweisen.

Wobei er eben nie ein "Manager" im klassischen Sinn war. Vielmehr Bauchmensch, der Mainstreambedürfnisse früher als andere erspürte, und Patriarch, der zwar nie auch nur ein Prozent am Sender besaß, ihn aber dennoch wie sein Eigentum behandelte. Im kongenialen Gespann mit der strategischen Analytik seines jungen Luxemburger Programmdirektors Marc Conrad revolutionierte Thoma die Sehgewohnheiten des deutschen Publikums, das täglich 'gestrippte' Programmabläufe à la US-Networks und Genres wie Daily Soaps zuvor nicht kannte. Das wahre Geheimnis des Erfolgs lag in der zwingenden Notwendigkeit, erfindungsreich und unkonventionell zu sein.

Konkurrent Sat.1 konnte sein Programm mit eingekauften Spielfilmen und US-Serien aus Leo Kirchs Archiv zupflastern – und sah infolgedessen wie halbwegs konventionelles Fernsehen aus. Thoma hatte anfangs nur zwölf Filme und 25 Millionen D-Mark Budget zur Verfügung, also war Spontaneität gefragt. "Erfrischend anders" sollte der Privat-TV-Pionier erklärtermaßen daherkommen. Dass es in Wahrheit oft "erschreckend anders" war, wurde später zu einem von Thomas Stammbonmots.

Für die wilde Wachstumsphase zwischen Live-Hütchenspielen, "Tutti Frutti" und dem "Schloss am Wörthersee" war Thoma genau der Richtige – für synergetisch aufgestellte Sendergruppen, bei denen plötzlich die zweite Nachkommastelle im Deckungsbeitrag zählte, hingegen nicht mehr. Beim Hauptgesellschafter Bertelsmann im ostwestfälischen Gütersloh wähnte er "auf jedem Baum einen Controller". Von Bertelsmann-Vorstand Michael Dornemann kam als Retourkutsche das vergiftete Kompliment, Thoma sei "Deutschlands bester Intendant", ergo nur ein leitender Angestellter im Konzern. Die vorzeitige Trennung 1998 – ein Jahr vor Vertragsende – war schließlich unausweichlich.

Wie sehr Thoma an seinem Lebenswerk hing und wie tief es ihn schmerzte, als Endfünfziger nicht mehr in operativer Verantwortung zu stehen, belegten fortan die polternden Zwischenrufe von der Seitenlinie. Als ob er sich selbst und der Medienwelt noch etwas beweisen wollte, sammelte er in den Folgejahren Beraterjobs, Aufsichtsratsmandate und Ehrenämter wie Herbstlaub auf, für die er mitunter wie ein Getriebener mehr denn je um die Welt jettete. Eigener unternehmerischer Erfolg, etwa mit dem geplanten Regionalsender-Verbund Volks.TV oder einer Beteiligung an NRW.TV, blieb dem legendären Gründer des Luxemburger Garagenfernsehens zeitlebens verwehrt.

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