Spacey weiter: „Ich sehe die Veranstaltung heute nicht als TV Event. Für mich stellt sich die Frage: Wenn das Publikum nicht länger solche Unterscheidungen trifft, warum sollten wir das tun? Lassen Sie uns diese Label über Bord werfen oder wie Francis in ,House of Cards‘ möglicherweise sagen würde: 'Lassen Sie uns die Definitionen etwas ausweiten.' Und wenn wir uns nun schon einen gemeinsamen Namen geben wollen, sind wir nicht im Grunde alles Geschichtenerzähler?" Spacey lässt die Frage bei seiner Rede erst einmal im Raum stehen - und erzählt von der Entstehung von „House of Cards“. Mit der Idee seien David Fincher, Beau Willimon und er zu allen großen US-Networks gegangen. Jeder der großen US-Sender war sehr interessiert an der Idee - aber jeder wollte, dass erst einmal ein Pilot gedreht wird.



"Es hatte nichts mit Arroganz zu tun, dass wir uns der Bewerbung mit einem Piloten entziehen wollten. Es war viel mehr so, dass wir eine anspruchsvolle, vielschichtige Geschichte erzählen wollten, die Zeit braucht und auf Charakteren und ihren Beziehungen basiert, die sich erst nach und nach offenbaren. Das Versprechen eines Piloten hingegen jedoch darin in 45 Minuten schon mal alle Charaktere vorzustellen und beliebig Cliffhanger zu erzeugen, um schon in dieser Folge alles zu beweisen, was man mit der Staffel vor hat. Netflix war das einzige Unternehmen, das sagte: 'Wir glauben an Euch. Wir brauchen keinen Piloten. Also: Wie viele Episoden wollt ihr machen?' Im vergangenen Jahr wurden in den USA 113 TV-Piloten produziert, 35 davon gingen auch tatsächlich auf Sendung, 13 Serien davon wurden verlängert. In diesem Jahr wurden 146 Piloten produziert, 56 davon gehen in Serie. Wie das ausgeht, wissen wir noch nicht. Aber die Kosten für all diese Piloten liegen jedes Jahr zwischen 300 und 400 Millionen Dollar", so Spacey. "Das lässt unseren 'House of Cards'-Deal über zwei Staffeln ja geradezu kostengünstig erscheinen"

"Gib den Menschen was sie wollen, wann sie es wollen, in der Form in der sie es wollen - zu einem vernünftigen Preis"

Irgendwo in der McEwan Hall wird plötzlich gelacht. Spacey flüstert ins Mikro „Ich weiß, dass ihr hier seid, Netflix.“ Deren Erfolgsmodell - die Veröffentlichung aller Folgen gleichzeitig - habe eins bewiesen. Das Publikum möchte die Kontrolle. Es möchte Freiheit. "Wenn das Publikum alles auf einmal sehen möchte - wie es bei 'House of Cards' der Fall gewesen ist - dann sollte man ihm alles auf einmal geben. Mit diesem neuen Distributionsmodell haben wir meiner Meinung nach bewiesen, dass wir verstanden haben, was die Musikindustrie lange nicht verstanden hat: Gib den Menschen was sie wollen, wann sie es wollen, in der Form in der sie es wollen - zu einem vernünftigen Preis. Und sie werden eher bereit sein dafür zu zahlen als es zu stehlen. Klar, einige werden weiter stehlen aber ich glaube mit diesem neuen Modell können wir Piraterie  entscheidend verringern."

Spacey weiter: "Wir haben verstanden was das Publikum will - es will Qualität. Und wir wissen, was die Kreativen wollen - künstlerische Freiheit. Der einzige Weg um das zu bewahren, ist Innovation." Es sei auch klar, was die Konzerne, die Studios und Sender wollen: "Sie wollen Geld verdienen und sie müssen ja auch profitabel sein, um weiter hochqualitative Programme zu finanzieren. Dazu brauchen sie das größtmögliche Publikum mit der größtmöglichen Aufmerksamkeit. Haben wir alles verstanden. Die Herausforderung besteht darin, ein Umfeld zu schaffen in dem Führungskräfte, die nur in Zahlen denken, ermutigt werden unsere Mission zu unterstützen: Ein Umfeld zu schaffen,  das lieber das Risiko eingeht, zu experimentieren und zu scheitern als auf Nummer sicher zu gehen. Es ist wie Steve Jobs gesagt hat. Warum hat er immer wieder Henry Ford als Inspiration genannt? Weil Ford der Auffassung war, dass die Menschen nicht wussten, dass sie ein Auto brauchten und sogar wollten bis er eins erfand. Und wir wussten nicht, dass wir das was Apple erfunden hat brauchten und wollten, bis Steve Jobs es uns gegeben hat. Das ist die Art Innovationsfreude die wir brauchen."

"Geduld, eine häufig unterstützte Qualität die in der kreativen Entwicklung gebraucht wird und aber leider oft keine Tugend ist"

Er mahnt die Branche: „In gewisser Hinsicht müssen wir besser sein als das Publikum, ihm einen Schritt voraus sein. Wir müssen überraschen, Regeln brechen und Zuschauer mitreißen. Wir müssen ihnen bessere Qualität liefern. Wir werden den Status Quo nicht über Nacht ändern, aber wir können jetzt die Weichen stellen. Die finalen Folgen von 'Breaking Bad' erreichen gerade ein außerordentliches großes Publikum und die Medien überschlagen sich in der Analyse des Netflix-Effekts. Dieses Beispiel lehrt uns eine andere, wichtige Lektion für Sender - es geht um Geduld, eine häufig unterstützte Qualität die in der kreativen Entwicklung gebraucht wird und aber leider oft keine Tugend ist, die sich in den Führungsetagen der Sender findet, die seit Jahrzehnten darauf aus sind, ihre nächsten Hit-Formate so schnell wie möglich zu finden. 'Breaking Bad' kam beim Blick auf die Einschaltquoten nur langsam in Gang. Den größten Sprung machte die Serie nach ihrer Netflix-Premiere Ende 2011. Die Zuschauer, die die Serie bei AMC gesehen hatten empfahlen es Freunden, die die Serie dann erst über Netflix entdeckten. So baute sich eine immer größere Erwartung neuer Folgen auf.“

Kevin Spacey© GEITF / Rob McDougall


„AMC glaubte an die Serie, weil 'Mad Men' sie gelehrt hatte, dass eine Serie Zeit braucht um ihr Publikum zu finden und das Begeisterung der Fans und das Qualität des Publikums wichtiger waren als die reinen Zahlen, wenn es um die Schaffung einer Programmmarke geht. Was uns der eher späte Erfolg von 'Breaking Bad' lehrt“, so Kevin Spacey in seiner Rede, „ist, dass wir diese Serien als Vermögen sehen müssen, das genährt und vor zu schnellen Entscheidungen der Sender geschützt werden muss. Die ,Sopranos' brauchten vier Staffeln um ihren Höhepunkt zu erreichen. 'Seinfeld' brauchte fast fünf Jahre bis es Spitzenquoten holte. Die ersten vier Staffeln schafften es nicht einmal in die Nielsen-Top30. Es braucht Mut an eine Serie zu glauben, wenn die Zahlen nicht stimmen; Beherztheit nicht unter dem Druck der Führungsetage zusammenzubrechen. Es hat sich doch gezeigt, dass der Glaube an Ideen und starke Talente sinnvoller ist als ein Pilot-System, das alle möglichen Ideen an die Wand wirft, in der Hoffnung das schon irgendetwas hängen bleibt. Wenn ein Publikum süchtig ist nach einer Serie, egal wie klein die Zuschauerzahlen zu Beginn sind, ist sie es dann nicht wert, Zeit zu investieren, um ihr Potential zu entfalten? Und wenn wir dafür all unsere Regeln überdenken müssen, anders programmieren müssen oder mit Verwertungsfenstern spielen müssen, dann sollten wir verdammt nochmal bereit sein, alles auszuprobieren."

Spacey kommt ins Schwärmen, wenn er über Fernsehen spricht. "Jede Kunstform brauchte einige Jahrzehnten bevor sie fest verankert war und als Kunstform anerkannt wurde. Romane wurden erst nicht ernst genommen, weil sie keine Poesie waren. Fotografie wurde in ihren ersten 50 Jahren im Vergleich zur Malerei als minderwertig betrachtet. Es brauchte Jahrzehnte bis der Film sich von der billigen-belanglosen Unterhaltung für die Massen zu einer Kunst entwickelte. Denken Sie an David Lean. Niemand hat seiner Warnung 1990 große Aufmerksamkeit zukommen lassen. Niemand hat ihn ernst genommen an jenem Abend. Die Filmindustrie glaubte nicht, dass das Fernsehen jemals ihr größter Konkurrent werden könnte - und doch vergingen nur acht Jahre bis 'Die Sopranos' bei HBO Premiere feierten und die Welle der Schauspieler, Regisseure und Autoren, die im Fernsehen eine  fruchtbarere Spielwiese gefunden hatten, setzte sich in Bewegung.“

"Ich glaube nicht das heute, wenn es um von Charakteren lebende Geschichten geht, jemand bestreiten würde, dass das Fernsehen das Kino überholt hat"

Und der zweifache Oscar-Preisträger setzt noch einen oben drauf. „Ich glaube nicht das heute - 15 Jahre später - wenn es um von Charakteren lebende Geschichten geht, jemand bestreiten würde, dass das Fernsehen in der Tat das Kino überholt hat. Es ist gerade einmal ein gutes Jahrzehnt her, dass das Fernsehen endlich als ernstzunehmende Kunstform gesehen wird und das hauptsächlich weil Pioniere im PayTV Chancen erkannt haben und ihre Geschichten auf ein Publikum trafen, dass nach anspruchsvolleren Geschichten und Charakteren verlangte als die, die das Kino ihnen bot. Studios und Sender, die die zunehmende Raffinesse im Storytelling oder den technischen Fortschritt ignorieren, werden auf der Strecke bleiben. Wenn sie diese Warnungen nicht ernst nehmen, dann wird sich das Publikum schneller weiterentwickeln als sie es tun. Sie werden sich schon ihre Geschichten und die Plattformen, die sie anbieten, suchen. Netflix und andere Angebote sind so erfolgreich, weil sie gute Inhalte und einen zukunftsweisenden Ansatz für dessen Konsum vereinen.“