Die Brandrede ist ein fester Bestandteil der modernen Mediengesellschaft. Viral verbreitet, gibt sie dem Erregungspotenzial einer Sache in Windeseile Gesicht und Stimme, die fortan untrennbar mir ihr verbunden sind. Legendär ist da Trapattonis Strunz-Suada, gefolgt von Völlers Weißbier-Volte oder Christian Lindners Wutausbruch im Düsseldorfer Landtag, ganz zu schweigen von allem, was Herbert Wehner einst in den Bonner Plenarsaal warf. Gut, gegen die Pöbelei des SPD-Politikers wirkte Marcel Reich-Ranickis Gardinenpredigt beim Deutschen Fernsehpreis vor acht Jahren fast zahm; doch schon die Einleitung seiner Dankesrede fürs Lebenswerk hatte es in sich: „Ich nehme diesen Preis nicht an.“ Touché!

Einen Deutschen Fernsehpreis abzulehnen, zumal den, der ihn im Titel trägt, war bis zum Herbst 2008 schließlich undenkbar. Wie alle Branchentrophäen sind ja auch die des alten Leitmediums Hochämter festlicher Diplomatie, wo Besiegte lächeln, selbst wenn die Sieger – wie der frisch gekürte Weltfußballer Christiano Ronaldo – durch entrückte Euphorie doppelt triumphieren. So wird es fraglos auch heute Abend sein, wenn mit der Goldenen Kamera ein künstlerisch eher belangloses, aber auch atmosphärisch zusehends irrelevantes Objekt zum Materialpreis von 625 Euro verliehen wird. Marcel Reich-Ranicki jedenfalls wird nicht mehr einschreiten können, wenn Helene Fischer mal wieder irgendeinen Preis für irgendwas bekommt und die angekündigte Oscar-Gewinnerin leider früher zum Flieger muss, sorry.
 
Und so dürfte es einmaliger Ausbruch aus der Heiterkeitsroutine gewesen sein, als der streitbare Literaturkritiker den „Blödsinn“ prämierter Produkte von der „besten“ Show „DSDS“ bis zur Ferres als beste „Schauspielerin“ beklagt und so den zwischenzeitlichen Abgesang auf den Deutschen Fernsehpreis eingeläutet hat. Nach einer umstrittenen Reform, an deren Ende elf der hässlichen Obeliske übriggeblieben waren, räumten ARD, ZDF, RTL, Sat1 ihre Primetime noch fünfmal im Wechsel für die lieblose Verleihung frei – dann war Schluss. Für ein Jahr. Vor drei Wochen feierte sie Wiederauferstehung. Nicht mehr live via TV, aber mit altem Proporzsystem, das den Privatsendern ein paar der nun wieder 22 Preise (drei allein für Vox) gönnte; der Rest wurde öffentlich-rechtlich verteilt. Von einer elfköpfigen Jury aus Kennern, Kritikern, Verwaltern der Branche unter Vorsitz des leitenden Burda-Männerbeauftragten Lutz Carstens.
 
Verglichen mit dem Bambi ist das Prozedere indes lupenrein demokratisch. Carstens‘ Mutterverlag vergibt den ältesten, seltsamsten, vor allem aber: filmisch irrelevantesten Fernsehpreis unter einer Handvoll gleichartiger Auszeichnungen wie Goldener Gong oder Mira Award, die sich um diesen Titel streiten. Seit 1948 in München verliehen, sitzt der Jury Patricia Riekel vor, deren „Bunte“ von Politik und Hochkultur seit jeher als seriöses Recherchemedium verehrt wird. Stets Ende des Jahres befindet sie im Kreise anderer Verlagsangestellter nebst Feuilletonisten wie Peter Maffay & Eva Padberg über rund 20 Preisträger von Popstar bis TV-Ereignis, was bereits Gewinner wie Bushido, Um Himmels Willen und jeden Hollywoodstar, der am Tag der Verleihung Zeit hat und im Ersten Deutschen Werbefernsehen zufällig zugegen ist, hervorgebracht hat.
 
Da es also doch eher darum geht, in Vitrinen populärer Promis und Fotostrecken hauseigener Blätter zu landen, schlägt das Kitz die Konkurrenz im Kampf um den Titel glitzernder Belanglosigkeit schon wegen seiner Herkunft aus der Bauchhöhle des Boulevards um Längen. Schließlich wird die Goldene Kamera heute nicht an der Isar, sondern Elbe verliehen. Doch auch an der pragmatischeren Waterkant ist „Hörzu“-Chef Christian Hellmann unterstützt von „namhaften Vertretern aus Film und Fernsehen“ daran gelegen, statt Güte vor allem Glanz zu prämieren. Moderiert von Thomas Gottschalk mischt sich daher auch etwas Hollywood unters deutsche Personal, das schon mal Ulla Kock am Brink heißt. Diesmal ist es Gerald Butler, den Blockbusterfans als eingeölten Muskelprotz der Testosterondusche „300“ kennen, während Cineasten weder vom Schotten noch seinem Actionquatsch „Olympus Has Fallen“ je gehört haben dürften, für den er als „Bester Schauspieler international“ gekürt wird.
 
Carmen Nebel oder Wolfgang Stumph lauten hingegen regelmäßig die Empfänger der Goldenen Henne. Da über deren Vergabe die Kernzielgruppe von MDR und RBB abstimmt, nennt sie Stefan Kobus von der mitverantwortlichen „SUPERillu“ zwar den „größten“ und „ehrlichsten“ Publikumspreis Deutschlands; weil dessen Geschmack indes eher Masse als Klasse spiegelt, gewann hier eben der „Tatort Münster“ als überall da, wo es wirklich um Qualität geht, das brillante Drama „Homevideo“ gekürt wurde. Auch vom einzigartigen Grimme-Institut, versteht sich.
 
Abgesehen vom Bayerischen Fernsehpreis und dem Filmfest Baden-Baden ist die Jury nirgends sonst so objektiv und fachkundig wie in Marl, nirgends sonst nimmt sie derart viele Formate in Augenschein, nirgends sonst sind die Sieger von ähnlich erlesener Güte und nirgends sonst wächst deren Ansehen - auch wenn das selten prämierte Privatfernsehen ulkt, ein Lob aus Marl beende manche Sendung sehr effektiv. Über Auszeichnungen für „Galileo Spezial“ oder „Doctor’s Diary“ hat man sich dennoch gefreut. Am 4. April steht der Grimme-Preis wie gewohnt für den Grenzbereich hiesiger Filmkunst mit gesellschaftlicher Strahlkraft. Davon zeugte ja schon der allererste für die 1964 noch unliebsamere Schuldaufarbeitung „Der SS-Staat“, ganz zu schweigen von insgesamt zehn Auszeichnungen für Dominik Graf.
 
Ein sperriger, maßgeblicher, wunderbarer Regisseur, der das Publikum fordert und fördert. Von Bambi oder Goldener Kamera in seiner gut gefüllten Pokalvitrine ist bislang nichts ruchbar geworden. Von letzterer brachte ihm sein epochales Serienmeisterstück „Im Angesicht des Verbrechens“ 2011 aber immerhin eine Nominierung. Für Hauptdarsteller Max Riemelt. Hübscher Junge.