"Die Doku-Branche steht vor einer Zerreißprobe" - Diesen Artikel haben wir im März im Rahmen unseres Karrierespecials veröffentlicht und er hat für viel Wirbel gesorgt. Produzenten kritisierten darin, dass der klassische Dokumentarfilm in Deutschland ausstirbt, die Sparrunden bei ARD und ZDF trafen auch im besonderen Maße die Doku-Branche. Mit vielen Produktionen befinde man sich "wirtschaftlich am Limit", sagte Alexander Hesse, Geschäftsführer bei der Gruppe 5 Film, damals. Doch nicht alle Doku-Produzenten wollen in den allgemeinen Tenor einstimmen.


Leopold Hoesch, Geschäftsführer bei der in Köln ansässigen Produktionsfirma Broadview TV, will nicht alles auf die Sender schieben und sieht ein großes Problem bei den Dokumentarfilmern selbst. "Es gibt natürlich immer eine systemische Komponente bei kontinuierlichem Misserfolg, aber im Großen und Ganzen liegt die Misere des Deutschen Dokumentarfilms eher an den Filmemachern als an den Sendern", sagt Hoesch im Gespräch mit DWDL.de. Viele Filme seien handwerklich schlicht nicht mit der Zeit gegangen und auch der Vertrieb sei nicht gut organisiert. "Wenn man beim deutschen Dokumentarfilm von einer Krise sprechen will, dann ist es in meinen Augen eher eine 'Wohlstandsverwahrlosung' als ein Versagen der Öffentlich-Rechtlichen." Das Mittelmaß werde zu sehr incentiviert, das mache die Finanzierung von Spitzenfilmen schwieriger. Die Öffentlich-Rechtlichen würden in der Wahrnehmung laut Hoesch gerade zu einer Art Zigarettenindustrie verkommen, auf die man haltlos schimpfen könne und immer Beifall erhalte.

Ein großes Problem laut Hoesch: Die produzierten Filme erreichen oft nur noch wenige Menschen. Die Mitglieder der Deutschen Filmakademie wählen jedes Jahr die besten Kino-Dokumentarfilme aus. "Aus den acht Filmen der Vorauswahl werden drei zum Deutschen Filmpreis nominiert. Einer gewinnt. Seit Jahren schafft kaum einer dieser Filme mehr als Eintausend Kino-Zuschauer. Und wenn man sich die Filme anschaut, dann weiß man bei den meisten auch warum." Dennoch hätten die Filme viel Filmförderung erhalten und seien erst durch die Beteiligung von ARD und ZDF zustande bekommen. "Kein Land der Welt erlaubt sich diesen Luxus, so am Markt vorbei zu arbeiten. Wenn man sich dann aber noch lauthals über die Rahmenbedingungen beschwert, hat das was mit Realitätsverlust bei manchen Kollegen zu tun", kritisiert Hoesch.

Auch beim Kultursender Arte will man die Kritik, die unter anderem Christian Beetz in dem Artikel aus dem März äußerte, nicht so ohne weiteres hinnehmen. Beetz sagte, auch bei Arte finde der Kinodokumentarfilm inzwischen nur noch auf Sendeplätzen in der Sommerpause statt. Bernd Mütter, Stellvertretender Programmdirektor und Hauptabteilungsleiter Programmplanung TV/Web, sagt nun gegenüber DWDL.de: "2016 hat Arte im Zeitraum Januar bis Dezember 20 abendfüllende Kinodokumentarfilme ausgestrahlt. Hinzu kommt der wöchentliche Sendeplatz Lucarne/Spätvorstellung, in dem die Autoren im dritten Abend am Montag große Freiheiten der Form erhalten." Insgesamt betrage der Anteil der dokumentarischen Formate mehr als 40 Prozent des gesamten Programms, so Mütter, der auf die Sendeplätze am Dienstag- und Samstagabend sowie auf das Tagesprogramm verweist. Hinzu kämen immer wieder Schwerpunktprogrammierungen, mit denen man Dokumentarfilmen und Dokumentationen "besondere Aufmerksamkeit" verschaffe. Mütter: "Anfang Juni etwa wird Arte wieder im Rahmen eines Dokumentarfilmfestivals zahlreiche herausragende Kinodokumentarfilme – und die besten von ihnen auch in der Primetime – ausstrahlen."

Christian Beetz hatte den Öffentlich-Rechtlichen inklusive Arte vorgeworfen, den Dokumentarfilm finanziell und in der Anzahl extrem einzuschränken. So ko-finanziere Arte nur noch zehn "Grand-Formats" im Jahr, bei der ARD sehe das nicht anders aus. Und beim ZDF seien es noch viel weniger. "Auf dem internationalen, bzw. amerikanischen Markt sieht es jedoch komplett anders aus. Dort verzeichnet der große Dokumentarfilm einen regelrechten Boom", so Beetz, der explizit auch Streaming-Anbieter wie Netflix nannte, die sich inzwischen verstärkt in dem Bereich engagieren. "Sie schließen die aufgetane Lücke", sagte Beetz.

Natürlich geht es auch immer noch besser. Aber zeigen Sie mir doch bitte einen Ort auf der Welt, wo es wirklich besser ist - sowohl in der Tiefe als auch in der Breite Dokumentarfilme zu produzieren.

Leopold Hoesch, Geschäftsführer Broadview TV

Leopold Hoesch hält dagegen und sagt: "Von einem Boom beim internationalen Dokumentarfilm, der in Zukunft die ganze Branche ernährt und kurz davor steht, das öffentlich-Rechtliche System in Deutschland zu ersetzen, habe ich noch nichts gemerkt. Wenn deutsche Produzenten überhaupt große Produktionen international verkaufen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie erst mit Mitteln von Arte, ARD, ZDF oder einer Filmförderung zustande gekommen sind." Das System habe hier und da seine Schwachstellen und sei mit Sicherheit nicht perfekt ("Stichwort: Warum gibt es für Fiction Wiederholungshonorare und für Non-Fiction nicht?"), aber es gebe eben auch kein besseres, so der Produzent, der 2005 für das Dokudrama "Das Drama von Dresden" mit einem International Emmy Award ausgezeichnet wurde. "Natürlich geht es auch immer noch besser. Aber zeigen Sie mir doch bitte einen Ort auf der Welt, wo es wirklich besser ist - sowohl in der Tiefe als auch in der Breite Dokumentarfilme zu produzieren." Die Sender in Geiselhaft zu nehmen und zu sagen, sie sollen Filme um 20:15 Uhr zeigen, die schon vorher keiner wollte, sei verträumt. "Es gibt kein Anrecht darauf, brutal am Markt vorbei zu produzieren und bei Erfolglosigkeit zu sagen, dass die anderen schuld sind."

Tatsächlich gibt es in Deutschland vielfältige Möglichkeiten, um sich Förderungen für einen Dokumentarfilm zu holen. Das reicht vom DFFF über die Filmstiftung NRW bis hin zu den anderen Filmförderungsanstalten der Länder und der FFA Filmförderungsanstalt. "In Deutschland bekommen Sie so viel mehr Geld für Dokumentationen zusammen als in vielen anderen Ländern", sagt Hoesch. Dennoch sei es natürlich kein guter Beruf, um reich zu werden. "Der Markt ist kompliziert, mit stark oligopolistischen Tendenzen und im Grunde nur vier bestimmenden Marktteilnehmern. Wenn Sie eine Chemiefabrik eröffnen und alles richtig machen werden Sie tausend Mal mehr Geld verdienen, allerdings dürfen sie dann auch keine Filme machen."