Dass Degeto-Redakteurin Carolin Haasis einen Kringel mit einem Pluszeichen auf ihren Zettel kritzelt, kann die Regisseurin am anderen Ende des Tisches nicht sehen. Könnte sie es, würde sich die Nervosität der jungen Frau vermutlich legen. Denn das Plus im Kringel heißt: erster Eindruck positiv – Haasis kann sich vorstellen, die Regisseurin bei passender Gelegenheit zu beauftragen. Der Vorgang wird sich in den nächsten zwei Stunden noch einige Male wiederholen. Doch ein Plus bekommt längst nicht jede Kandidatin.
62 Regisseurinnen sind in einem Penthouse hoch über dem Berliner Gendarmenmarkt aufmarschiert, um 30 Redakteurinnen und Redakteure der ARD-Anstalten sowie der Degeto zu treffen. Die Einkaufs- und Produktionstochter des Senderverbunds hat zum "Regisseurinnen-Speeddating" während der Berlinale eingeladen. Haasis' Noch-Chef Sascha Schwingel, der im Sommer bekanntlich Vox-Geschäftsführer wird, achtet auf strenge Einhaltung der Spielregeln: An zwölf Tischen mit jeweils zwei bis drei Redakteuren hat jede Regisseurin fünf Minuten Zeit sich vorzustellen. Ertönt der Gong, ist die nächste dran. Sind alle am Tisch durch, wechseln die Regisseurinnen einen Tisch weiter.
"Wir haben gemerkt, dass wir viel zu weit von einem austarierten Verhältnis zwischen Regisseuren und Regisseurinnen entfernt waren", erläutert Degeto-Geschäftsführerin Christine Strobl, während das Speeddating in vollem Gange ist. "Je nach Sendeplatz lagen wir vor drei Jahren bei einem Frauenanteil von 9 bis 15 Prozent. Inzwischen haben wir 20 Prozent erreicht. Unser Ziel für die nächsten drei Jahre heißt 25 Prozent." Laut Regie-Diversitätsbericht des Bundesverbands Regie (BVR) ist der Regisseurinnen-Anteil zwischen 2014 und 2017 bei der ARD insgesamt von 11,2 auf 19,8 Prozent gestiegen, beim ZDF von 8,4 auf 16,9 Prozent. Um mehr Frauen für die Regie von Filmen und Serien engagieren zu können, muss man sie zunächst einmal kennen. Daran hapert es in vielen Senderredaktionen noch. Degeto-Redaktionsleiter Schwingel hatte deshalb zur Berlinale 2018 die Idee zu dem ungewöhnlichen Networking-Format.
Das Ergebnis der ersten Ausgabe kann sich sehen lassen: Sechs Teilnehmerinnen hatten in Folge einen Regieauftrag erhalten. Bettina Schoeller-Bouju hat einen 90-Minüter aus der Degeto-Reihe "Die Drei von der Müllabfuhr" gedreht, Verena Freytag eine Folge der Vorabendserie "Familie Dr. Kleist", Isabell Suba einen "Barcelona-Krimi", Neelesha Barthel, Esther Gronenborn und Isabel Braak jeweils einen Freitagsfilm fürs Erste. Ausschnitte aus den sechs Produktionen führen Strobl und Schwingel zu Beginn des zweiten Speeddatings stolz vor – und steigern damit die Begehrlichkeiten. "Diesmal hoffen wir auf zwölf Aufträge", ruft Cornelia Grünberg, Vorstandsmitglied von Pro Quote Film, in den Raum und meint das nicht wirklich als Scherz. Der Verein von Filmemacherinnen, der sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit vor und hinter der Kamera einsetzt, kooperiert für die Veranstaltung mit der Degeto. Aus seinem Netzwerk von rund 600 deutschen Regisseurinnen rekrutieren sich die eingeladenen Kandidatinnen.
© ARD Degeto/Petra Stadler
An den zwölf Tischen herrscht unterdessen gespannt-freundliche Dating-Atmosphäre. Manche Kandidatin zieht es vor, ein konkretes Projekt zu pitchen, andere sprechen lieber über sich und ihre Vorlieben. Informationen zur Filmografie und zu Genre-Präferenzen haben die Redakteure auf Merkblättern vor sich. Am Tisch, den Degeto-Redakteurin Carolin Haasis mit ihren Kollegen Katja Kirchen und Stefan Kruppa teilt, ist gerade die 34-jährige Lisa Violetta Gaß aus Köln an der Reihe. Kurz und präzise berichtet sie von einem aufwendigen Dokumentarfilm, für den sie seit fünf Jahren zwischen Berlin, London und Vietnam dreht. "Aber das ist nur ein Teil von mir. Eigentlich will ich Spielfilme machen." Ein Psychothriller und ein Coming-of-Age-Drama seien mit verschiedenen Drehbuchautoren in Entwicklung. "Ich schreibe nicht selbst und bin offen für Stoffe von außen", betont Gaß noch schnell, als der Gong ertönt. "Darf ich jetzt?", fragt eine andere Regisseurin am selben Tisch. "Ich bin so aufgeregt." Noch eine andere teilt am Ende ihrer fünf Minuten Visitenkarten aus. "Nicht nötig", lacht Carolin Haasis. "Wir haben ja alle eure Kontaktdaten."

"Angesichts der Verknappung von Talent können wir es uns gar nicht leisten, auf gute Frauen zu verzichten"
Christine Strobl, Geschäftsführerin der ARD Degeto
© ZDF/Rico Rossival
Fingscheidts Debütfilm "Systemsprenger", entstanden als Koproduktion mit dem "Kleinen Fernsehspiel", läuft aktuell im Wettbewerb der Berlinale. Vukovic' Regiedebüt, der Psychothriller "Detour", lief im Herbst 2017 im ZDF. Es sei eine "tolle Möglichkeit, nach Abschluss des Regieförderprogramms eine Visitenkarte zu haben, um hoffentlich in diesem Bereich weiterarbeiten zu können", sagt Nora Fingscheidt. Nina Vukovic spricht von einer "großen Chance, um als Talent gesehen und gefördert" zu werden. "Wir erhoffen uns davon eine nachhaltige Förderung, die dem ganzen Markt zugute kommt", so Heike Hempel, "aber natürlich hoffentlich auch dazu führt, dass die ausgewählten Regisseurinnen auch weiterhin dafür sorgen, dass das fiktionale ZDF-Programm à jour ist."
"Wir erhoffen uns eine nachhaltige Förderung, die dem ganzen Markt zugute kommt"
Heike Hempel, stellvertretende Programmdirektorin des ZDF
Auch wenn die angewandten Methoden bei ARD und ZDF unterschiedlich ausfallen, eint Strobl und Hempel doch die Überzeugung, dass der kreative Prozess des Filmemachens nicht von starren Quotenvorgaben belastet werden sollte. Pro Quote Film hingegen würde die Öffentlich-Rechtlichen nur zu gern auf 50 Prozent Anteil weiblicher Filmschaffender verpflichten. Dass ihre Kooperationspartnerinnen beim Speeddating zwar mit der generellen Richtung, nicht jedoch mit dem Tempo zufrieden sind, ist Christine Strobl durchaus bewusst. Aber: "Wir wollen einen maßvollen und machbaren Weg gehen."
Als der letzte Gong am Gendarmenmarkt längst verklungen und das Schlusswort gesprochen ist, sitzen die meisten Regisseurinnen noch immer an den Tischen im intensiven Gespräch mit ihren potenziellen Auftraggebern. Den Stapel ihrer Merkblätter hat Carolin Haasis in einer Mappe verschwinden lassen. Wie viele Pluszeichen sie darauf gekritzelt hat, bleibt vorerst ihr Geheimnis.