Realistisch? Michelle Müntefering muss lange überlegen, um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt eines TV-Formats zu beantworten, in dem die Realität mehr als bei jeder vergleichbaren Sendung Patin stand. "Realistisch…", wiederholt sie leise und blickt ungewohnt schweigsam in den sonnigen Ruhrpotthimmel. Nein, meint die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt plötzlich bestimmt. Realistisch sei bei "Eichwald, MdB" eigentlich niemand so richtig. Und falls es doch eine Figur der Zeitgeschichte gibt, die dem Bundestagsabgeordneten der gleichnamigen ZDF-Serie ähnelt, dann allenfalls Jakob Maria Mierscheid.

Jakob Maria wer?

Jakob Maria Mierscheid, eine Art Phantom des politischen Berlins, die "Steinlaus des Bundestags", wie es MdB Müntefering lachend beschreibt. Weder den virtuellen Fantasiepolitiker Mierscheid noch den fiktionalen Fernsehpolitiker Eichwald gibt es im echten Reichstag, doch mittlerweile geistern beide im Parallelflug unter der Reichstagskuppel hindurch: Ersterer als lustiges Hirngespinst unbekannter Parlamentarier, die ihn sich einst zum Spaß ausgedacht und seither durch alle Parlamentsinstitutionen geschickt haben; letzterer als Titelfigur der besten Politikserie deutscher Herkunft, die 2015 bei ZDFneo ihre Premiere feierte und auch in neuer Staffel zum Pflichtprogramm vieler Profis zählt.

Michelle Müntefering schaut Eichwald, MdB

Denn der abgehalfterte Hinterbänkler einer nicht näher definierten Volkspartei stümpert sich seit vergangenem Freitag wieder durch den Alltag der Untersuchungsausschüsse und Pressekonferenzen, PR-Termine oder Fraktionssitzungen. Und wie Bernhard Schütz diesen Platzhirsch im Kreis seines überforderten Teams mit betriebsblinder Fiebrigkeit füllt – das ist erneut tragikomisches Entertainment der Extraklasse. Nur: ist es auch glaubhaft? Weil wir Wählenden schon in der wirklichen Welt ein diffuses Bild vom Volkvertreter haben, weshalb kein Außenstehender weiß, wie authentisch all die Fünfzehnsekundeninterviews oder Fünfzigminutentalks eigentlich sind, haben wir uns mit der Frau vom Fach zusammengesetzt.

Und nicht nur das: Michelle Müntefering, seit 2013 für die SPD im Bundestag und als Außenpolitikerin mit einem Ruf versehen, dessen Klang längst weiter reicht als der ihres Namens – sie sitzt für Hajo Eichwalds Wahlkreis im Parlament. Herne/Bochum II. Sozialdemokratisches Kernland. Und genau danach sieht ihr Heimatbüro auch aus. Im proletarierstolzen Plattenbau ihrer deutlich hörbaren Heimat schaut sich die Eingeborene mit DWDL ein paar Folgen "Eichwald, MdB" an, dessen erste Staffel sie – "klar" – vor vier Jahren freiwillig gesehen hat. Und auch wenn sich der Politprofi mit inhaltlicher Kritik zurückhält, sind knapp anderthalb Stunden Binge-Watching mit der meinungsstarken Frohnatur überaus erhellend – wenngleich nicht so furchtbar überraschend.

Auch die Episoden fünf bis zehn nämlich seien nach Büchern von Stefan Stuckmann "total überzeichnet", wie Müntefering bei Obst und Sprudel urteilt. Doch in jeder Überzeichnung, fügt die Enddreißigerin hinzu, "steckt ein Stück Kernwahrheit". Zunächst aber steckt darin ein Humor, der erst die Abgeordnete, dann zwei Mitarbeiter zum Giggeln bringt. Wie der Sportbeauftragte Eichwald in einem Dopingskandal um Aufmerksamkeit kämpft, wie sein Mitarbeiter Basti (Leon Ulrich) dabei die Medien gegeneinander ausspielt, wie dessen Ziehvater Berndt (Reiner Reiners) zugleich von politischem Ethos träumt, das abrupt am Babybauch von Kollegin Julia (Lucie Heinze) endet, die ihre Profilneurose an der gleichnamigen Schwangerschaftsvertretung (Hanna Hilsdorf) abarbeitet – da herrscht zuweilen ausgelassene Heiterkeit im resopalgrauen Sitzungsraum.

Michelle Müntefering schaut Eichwald, MdB

Ob sie damit auch ein wenig über sich und ihr Metier lache, wenn Münteferings Lieblingsfigur Maren Kroymann als Fraktionschefin ("boah, ist die böse") das Besetzen unliebsamer Ausschüsse mit einem Gang Bang im Hardcoreporno vergleicht, während fast alle Männer ihren Sexismus pflegen, als gäb‘s kein #MeToo? "Nein!", sagt MM resolut und wiederholt es zur Sicherheit viermal. "So ist bei uns keiner!" Punkt. Als ihr Pseudokollege Eichwald fast synchron mit seiner prominenten Zuschauerin als Mittagersatz eine Banane isst, muss sie zwar kurz kichern; aber trotz plausibel inszenierter Parteischulung im Rollenspiel, trotz frauenfeindlicher Zoten alter weißer Politiker in Reihe, trotz einer visionären YouTuber-Affäre um Eichwalds Doping-Verstrickung und Berliner Originaldrehorten – Michelle Müntefering steht zu ihrem Wort: nur Parallelen, keine Realitäten.

Dennoch, Hand aufs Herz: Nie wie Eichwald im ersten Cliffhanger den Frust auf der Parkbank mit Dosenbier ersäuft? "Ein Feierabendpils ist natürlich drin", entgegnet die geübte Netzwerkerin in Jeans und Hawaiihemd. "Aber nur in der Flasche und nie allein." Politik, soll uns das sagen, sei ein Mannschaftssport. Mobbing gehöre zwar leider dazu, aber nicht derart systematisch. Und wenn Eichwalds verwitweter Wahlkreisnachbar Uwe – "ein Bochumeinser" – peu à peu durchdreht, diene das wie so vieles eher der Fremdscham als irgendeiner Authentizität, und überhaupt: Die Fiktion ist um Längen schlimmer als ihre Wirklichkeit.

"Da könnt ihr mal sehen, wie nett ich zu euch bin", sagt sie folglich, als Eichwald mal wieder sein Team brüllend in den Wahnsinn treibt. "Daran merke ich aber auch, wie nett ihr zu mir seid", lobt sie ihre zwei Mitarbeiter im Raum, als derselbe Eichwald mal wieder von seinem Team in den Wahnsinn getrieben wird. Michelle Münteferings Fazit: "Ich bin froh, Teil der Realität zu sein und nicht dieser Serie." So lustig sie auch sei.

Das ZDF zeigt "Eichwald, MdB" derzeit immer freitags um 22:30 Uhr.
Alle Folgen beider Staffeln stehen auch kostenfrei in der ZDF-Mediathek bereit.