Es gibt nur wenig, das bereichernder ist, als Menschen, die man gut zu kennen meint, mal von ganz anderer Seite zu erleben. Henning Baum zum Beispiel, schrankwandbulliger Kumpeltyp vom privaten Mainstream, erweist sich im Gespräch als feingeistiger Fan von Hochkultur und Haute Couture, während man mit dem verkopften Arthaus-Regisseur Dominik Graf noch besser über guten Fußball als schlechtes Fernsehen streiten kann. Aus dieser Perspektive ist es mindestens überraschend, Charlotte Roche elf Jahre nach der Selbstbeschau ihrer Feuchtgebiete im Angesicht fremder Geschlechtsteile erröten zu sehen.

"Da tragen Mönche riesige Phallen durch die Straßen", erzählt sie beim Anflug auf ein japanisches Fruchtbarkeitsfestival und siehe da: die literarisch freizügige Moderatorin beginnt in Erwartung riesiger Penisse zu stammeln, als sei sie nicht Charlotte Roche, sondern – sagen wir: Sabine Postel, die ihrerseits im Interview vor derbem Witz übrigens Funken sprüht. Was uns das lehren soll? Entertainer aller Art nicht mit ihrem Bühnenbild zu verwechseln! "Es ist ein riesiges Missverständnis, mich wegen meiner offenherzigen Bücher zum Thema Sexualität als schamlos zu betrachten", sagt Charlotte Roche über ihr Arte-Format "Love Rituals" und erklärt auch warum: "Ich wurde total schambehaftet erzogen und bin es bis heute." Schwer zu glauben. Aber wahr.

Indem sie davon erzählt, erstaunlich offen und dennoch gehemmt, "bekämpfe ich mein Schamgefühl über Dinge, für die man sich echt nicht schämen sollte", sagt die publizistisch freizügige, optisch züchtige Autorin mit Hang zu Blümchenkleidern. "Das ist fast eine Therapie." Trotzdem will sie gleich mal einem Missverständnis vorbeugen. Denn "Love Rituals" handelt keinesfalls (nur) von Sex, im Gegenteil; wäre es Arte um etwas irgendwie Pornografisches gegangen, "hätte ich nicht zugesagt". Also reist Roche voller Schamgefühl, aber ohne festes Drehbuch von Japan über Israel, Kenia, Indien und die USA zu den Orkney Inseln, um in dieser Reihenfolge mit leibesfreudigem Forscherinnengeist Lust und Liebe verschiedenster Kulturen zu entdecken, "wie Menschen zueinanderfinden und beieinander bleiben“" so drückt es die Entdeckerin aus – und ist dabei ganz in ihrem Element.

Entwaffnende Fröhlichkeit, gepaart mit neugieriger Empathie und ihrer unbefangenen Art unterhaltsamer Indiskretion: damit hat die gebürtige Britin aus Niederkrüchten schon vor 20 Jahren bei Viva bezaubert, vor allem aber: polarisiert. Einfach zu handhaben war die überzeugte Lipstickfeministin im Männerbusiness TV-Entertainment schließlich nie – weder zu Beginn ihrer Karriere, als sie 2003 mit kaum 25 Gastgeberin des ProSieben-Zwiegesprächs "Charlotte Roche trifft" wurde, noch sechs Jahre darauf beim Intermezzo in der Plauderlegende "3 nach 9" oder anschließend dem brillanten, aber sperrigen Anarcho-Talk "Roche & Böhmermann", geschweige denn in ihrer epischen Schlacht mit den reaktionären Testosteronzirkeln von "Bild" bis Kirche.

Äußerlich, innerlich, überhaupt – nichts an der Journalistin des Jahres 2012 mit einem Grimmepreis, zwei Kindern, drei Bestsellern und Podcast über ihre Patchwork-Ehe passt in herkömmliche Beurteilungsschemata weiblicher Selbstermächtigung. Vielleicht ist die alterslose Mutter von 41 Jahren ja deshalb so prädestiniert dafür, das Paarungsverhalten rund um den Globus unter die Lupe zu nehmen. Auch dabei geht es ja meist um Machtverhältnisse, in denen sich frau gegen alle Widerstände durchzusetzen versucht. Wenn Roche der Alleinerziehenden aus Kenia entlockt, die westliche Vorstellung romantischer Beziehung sei im afrikanischen Überlebenskampf purer Luxus, geht es daher ebenso um die Moderatorin selbst wie bei der israelischen Heiratskupplerin, die Liebe als gottgewolltes Schicksal behandelt. In diesem Kosmos sind Charlottes Geschlechtsgenossinnen selbst da, wo Diskriminierung nicht nur sozial, sondern auch juristisch stattfindet, schließlich eher Objekt als Subjekt.

Umso erhellender ist es, mit welch naiver Herzlichkeit die Weltreisende in Liebesdingen selbst offensichtlicher Ungleichbehandlung begegnet. Ihre "Love Rituals" wollen ersichtlich erleben, nicht beurteilen. Fürs Publikum hofft sie demnach "auf eine ähnliche Horizonterweiterung, wie ich selber sie erlebt habe". Sagt Charlotte Roche mit Blick aufs eigene Umfeld, in dem Beziehungen ebenfalls eine "sehr traditionelle, oft unromantische Abwägung von Vor- und Nachteilen" sei – zusätzlich befeuert von Dating-Plattformen und Paarungs-Algorithmen, die vorgaukeln, den einzig wahren, ewig währenden Partner mathematisch berechnen zu können.

Da bezeichnet sich die Expertin lieber ganz offen als Romantikerin, der fürs Glück zu zweit im Bedarfsfall keine Arbeit zu müßig wäre. Liebende, sagt sie mit diesem Lachen, dass auch in Israel, Japan, den Orkney-Inseln auf alle sofort ansteckend wirkt, seien nämlich "wie Bauern, die sich gemeinsam ums zarte Pflänzchen der Liebe kümmern". Und so was von der feuchtgebietstrittsicheren Expertin für Schoßgebete – schön, wenn man vom Fernsehen noch überrascht werden kann.

Arte zeigt "Love Rituals" ab heute, 21:35 Uhr und in den kommenden Tagen zu wechselnden Sendezeiten am späteren Abend - sowie online auf arte.tv.