"Der Fernseher muss kein toter Briefkasten sein." So schrieb der "Spiegel" 1974 über die erste Ausgabe von "3nach9". 45 Jahre später ist die Talkshow noch immer auf Sendung – auch wenn der Titel längst nicht mehr stimmt. Mit der Zeit wurden aus drei Moderatoren zwei und der Sendeplatz um eine Stunde nach hinten geschoben. Weil der Name jedoch längst zum Markenzeichen geworden war, heißt "3nach9" auch heute noch so wie in den Anfangstagen. Inzwischen handelt es sich gar um die dienstälteste Talkshow im deutschen Fernsehen, und wenn man sich die Quoten ansieht, dann steht zu erwarten, dass sie in fünf Jahren das halbe Jahrhundert vollmachen wird.

Davon war beim Start freilich nicht zu rechnen. "'3nach9' war 1974 die Sendung mit dem größten Chaos-Potenzial", schrieb Dieter Ertel, ehemaliger Fernsehdirektor von Radio Bremen, einmal. Schon rund vier Jahre zuvor machte er sich Gedanken über Wesen und Zukunft des Fernsehens – und spürte Überdruss, wie er sagt. "Ich fürchtete die Routine, die Langeweile des alltäglichen Trotts, und fragte mich, ob wir die Möglichkeiten des Mediums wirklich schon ausgeschöpft hatten." Zusammen mit dem späteren Moderator Wolfgang Menge und einem halben Dutzend Kollegen entstand schließlich das, was Ertel später als verrücktestes Kapitel seiner Berufszeit beschrieb.

"Es war der direkte Weg in die Katastrophe. Unsere Gesprächspartner fühlten sich angepöbelt und beleidigt und schrieben bitterböse Briefe an den Intendanten", erinnert sich Ertel an eine Pilotsendung, die er als "verbotenes Programm" beschrieb. So habe sich ein katholischer Sozialpolitiker nur widerstrebend anhören wollen, dass ein erigiertes Glied ein schöner Gegenstand sei. Daraus entstand später "3nach9". Und auch hier ging es turbulent zu: 1978 packte Menge einen Präservativtrockner und einen Dildo aus, um sich deren Gebrauch von Beate Uhse erklären zu lassen. Später zielte Fritz Teufel mit einer Wasserpistole auf einen Minister, woraufhin dieser ihm ein Glas Wasser über das Hemd kippte.

Die Feministin und Autorin Gerlinde Schlichter leerte 1984 gar ihr Glas Rotwein in im Nacken eines Bordellchefs aus, um ihrer Abscheu Ausdruck zu verleihen. Der Wirbel half: Es dauerte nicht lange, bis die Presse auf "3nach9" aufmerksam wurde. "Das war der Durchbruch", schrieb Ertel, der 2013 im Alter von 86 Jahren starb. "Unsere Show war zum Aushängeschild von Radio Bremen geworden, und das in einer Zeit, das die Generation der 68er ihre umstürzerische Vitalität entfaltete und ihre bösen Späße trieb. Die Institution '3nach9' überstand ihre kritischen, aber auch erfrischenden Flegeljahre."

Ganz so turbulent geht es inzwischen freilich nicht mehr zu. Das wissen auch die Verantwortlichen."'3nach9' steht und stand immer für gute Geschichten, ungewöhnliche Gäste-Zusammenstellungen und Fragen, die vielleicht nicht in jeder Talkshow gestellt werden", sagt die heutige Redaktionsleiterin Andrea Kinne gegenüber DWDL.de. Doch auch wenn der Akquiseaufwand in den letzten Jahren gestiegen sei, "haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Gäste gern zu uns nach Bremen reisen".

Insgesamt 47 Moderatorinnen und Moderatoren haben "3nach9" mittlerweile moderiert, allerdings niemand so oft wie Giovanni di Lorenzo, der seit 1989 an Bord ist und inzwischen zusammen mit "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers durch die Sendung führt. "Wenn man eine Sendung 30 Jahre lang moderieren darf, dann wird sie ein Teil des eigenen Lebens - in meinem Fall ist es genau die Hälfte", sagt der Journalist zu DWDL.de. "Insgesamt dürfte ich allein zwei Jahre im Parkhotel Bremen verbracht haben, zwei Jahre meiner Lebenszeit - auch wenn ich das selber kaum fassen kann."

3nach9

Judith Rakers und Giovanni di Lorenzo

In dieser Zeit sei man mit der Sendung "durch alle Höhen und Tiefen gegangen, die Sie sich nur vorstellen können", erinnert sich die Lorenzo. "Auf manche Gespräche war ich stolz und habe heute noch das Gefühl, dass es mir gelungen ist, jemanden wirklich zu öffnen. Aber viel mehr Gespräche habe ich schlicht vergeigt und mich darüber wahnsinnig geärgert." Zu den Höhepunkten dürfte jenes Gespräch gehören, das er 1990 mit Eberhard von Brauchitsch zur Flick-Affäre führte. Dieser brach damals bei "3nach9" sein öffentliches Schweigen – entsprechend hoch schlugen damals die Wellen.

Zwischen einem Fernsehinterview und einem Zeitungsinterview sieht der "Zeit"-Herausgeber unterdessen zwei große Unterschiede. "Beim Fernsehinterview hört der Zuschauer nicht nur, was der Interviewte sagt, sondern er sieht auch, wie er es sagt, wie er ist, wie er sich gibt. Gestik, Mimik, Sprache – all das fügt sich zu einem Gesamtbild. Ein guter Talk muss nicht eine News hervorbringen, doch muss er unbedingt die Frage beantworten: Wie ist der denn eigentlich so?" Gleichzeitig seien viele Menschen vor der Kamera nervöser. "Sie verlässt oft der Mut, wenn sie auf Sendung sind. Jede falsche Antwort kann ja einen Shitstorm auslösen", weiß di Lorenzo. "Beim Printinterview hingegen wird sprachlich noch mal geglättet, das beruhigt – und hierzulande werden Interviews in der Regel auch vor Veröffentlichung autorisiert."

Mag sein, dass auch "3nach9" heute etwas glatter daherkommt als noch in den Anfangstagen – ein Erfolg ist die Sendung noch immer. In diesem Jahr verzeichnet die Radio-Bremen-Talkshow im Norden einen durchschnittlichen Marktanteil von 11,2 Prozent. Gefeiert wird das Jubiläum allerdings nicht im Dritten, sondern an diesem Dienstag im Ersten, wo "3nach9" zur neuen Talk-Schiene zählt. Der frühere Fernsehdirektor Dieter Ertel rechnet daher schon vor Jahren fest mit dem runden Geburtstag – auch, weil "der Charmen der intelligenten, oft auch geistvollen Provokation", wie er sagte, erhalten geblieben sind.