"Wenn jetzt keine Dokumentarfilmoffensive kommt, wird eine riesige Chance auf allen Seiten vertan." Das hat Leopold Hoesch, Geschäftsführer von Broadview Pictures, im vergangenen Jahr gegenüber DWDL.de gesagt. Die Doku-Branche habe bessere Chancen als alle anderen, die Coronakrise zu bewältigen, so Hoesch. Und tatsächlich ist die Nachfrage von Sendern und Plattformen in jüngster Zeit rasant gestiegen. Nicht nur Netflix und Prime Video müssen die Gier der AbonnentInnen nach immer mehr Content stillen, auch die deutschen Sender (und ihre Online-Plattformen) setzen verstärkt auf nonfiktionale Inhalte - und hier eben auch Dokus. Diese waren gerade zur Hochzeit der Coronakrise oftmals einfacher zu produzieren als große Shows oder Serien und Filme. 

Andererseits hört man von Dokumentarfilmern oft, dass es die Menschen seien, die den aktuellen Trend befeuern. Die Zuschauer seien der oftmals gekünstelten Social-Media-Welt überdrüssig und würden zudem bemerken, dass die Wirklichkeit oft mindestens genauso spannend ist wie die Fiktion. Aufgrund dieser Entwicklung war zuletzt so viel Bewegung im Markt wie schon lange nicht mehr. Mit Banijay, UFA und Constantin haben gleich drei große Produktionshäuser eigenständige Doku-Einheiten gegründet. Hinzu kam der Kauf von Story House durch die Bavaria. Ganz klar: Hier ist etwas in Bewegung, das die Branche nachhaltig verändern wird. 

Marc Schlömer © Banijay Productions Marc Schlömer
Die Entwicklung wird aber nicht nur mehr Inhalte für die Zuschauer und User zur Folge haben - auch für die Macherinnen und Macher selbst könnte sich einiges verändern. Gerade in der Doku-Branche klagte man in den vergangenen Jahren immer wieder sehr laut: Zu wenig Budget, zu wenige und unprominente Sendeplätze oder auch zu wenig Flexibilität in der Darstellung wurden kritisiert. Wenn nun die Nachfrage steigt, werden sich zwangsläufig wohl auch die Arbeitsbedingungen verbessern. Die aktuelle Entwicklung mit den vielen Neugründungen sei "eine Chance für die vielen DokumentarfilmerInnen, die in Deutschland seit Jahren unter schwierigen Produktionsbedingungen leiden", sagt Marc Schlömer, der die neue Doc.Banijay leitet, im Gespräch mit DWDL.de. Die Dokumentarfilmer hätten mit den großen Produktionsfirmen starke Ansprechpartner an ihrer Seite, "die mit breitem Netzwerk neue Zugänge und attraktive Möglichkeiten eröffnen können".

 

"Fast alle aktuellen Dokumentationen über Fußballvereine, Sportler oder Popstars sind gehorsame Imagefilme. Zu schön, um wahr zu sein. Doch das durchschauen die ZuschauerInnen, und sie werden es ziemlich schnell satt haben."
Marc Schlömer, Chef der neuen Doc.Banijay

 

Das sieht man auch bei UFA Documentary so, dort nimmt man aber auch sich selbst in die Pflicht. "Wir müssen als ProduzentInnen einfach alle gemeinsam dafür sorgen, dass es in Zukunft mehr Sendeplätze mit höheren Budgets gibt", sagt Geschäftsführerin Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel. Die Zuschauer jedenfalls, da ist sich Szyszkowitz-Schwingel sicher, würden das Programm sehen wollen. Zusammen mit Marc Lepetit leitet sie die neue Doku-Einheit der UFA. Jochen Köstler, Geschäftsführer von Constantin Entertainment und als solcher auch verantwortlich für das neue Doku-Label, spricht gegenüber DWDL.de nicht nur von einer Belebung des Geschäfts, sondern gleich von der "Neugeburt einer Branche, die leider nicht immer zu den Publikumsmagneten gehörte". Inzwischen müsse man sie aber genau so nennen. 

Nachwuchssorgen auch im Doku-Bereich

Carsten Oblaender © Story House Productions Carsten Oblaender
Doch in dem derzeitigen Doku-Boom lauern auch Gefahren. "Eine Herausforderung für die Branche sehe ich vor allem darin, ausreichend Nachwuchs zu finden und auszubilden", sagt Carsten Oblaender, Geschäftsführer von Story House. Anders als die noch recht jungen Doku-Einheiten der anderen Produktionsfirmen ist Story House bereits seit mehr als 20 Jahren am Markt. "Dokumentationen haben die Kraft, Empathie und Mitgefühl in uns zu wecken, einen Dialog auszulösen. Aber man muss das richtige Gespür für ein Thema entwickeln und dann die Geduld und Ausdauer haben, daraus eine fundiert recherchierte und interessante Dokumentation zu machen." Um hier nachhaltig Erfolg zu haben, brauche man eine entsprechende Nachwuchsförderung. 

Marc Schlömer von Doc.Banijay fordert, dass sich die Branche nicht treiben lassen und jegliche Authentizität opfern dürfe. "Fast alle aktuellen Dokumentationen über Fußballvereine, Sportler oder Popstars sind gehorsame Imagefilme. Zu schön, um wahr zu sein. Doch das durchschauen die ZuschauerInnen, und sie werden es ziemlich schnell satt haben." Sender, Plattformen und Produktionsfirmen müssten Ausdauer entwickeln und auch die Besonderheiten des Genres fördern. "Langzeitbeobachtungen und allgemein Filme ohne Script sind oftmals die wahren Perlen." Marc Lepetit von UFA Documentary sagt im Gespräch mit DWDL.de, dass man Gespräche mit Streamern und Plattformen geführt habe, "die eben nicht nur die klassische Dokumentation in Ausdruck und Länge suchen". Hier tut sich also auch inhaltlich etwas. 

Droht eine Überhitzung des Markts? 

Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel und Marc Lepetit © UFA/Topper Komm Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel und Marc Lepetit
Eine Gefahr sieht Lepetit in einer möglichen Überhitzung des Marktes. "Authentizität, Wahrhaftigkeit, Besonnenheit. Das sind die wichtigen Faktoren für solche Filme." Wenn nun zu viele Player zu schnell arbeiten und Geschichten fertigstellen, bevor sie eigentlich fertig sind, berge das eine Gefahr. Lepetits Co-Geschäftsführerin Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel verweist bei der Frage nach Herausforderungen darauf, dass man alte Strukturen neu überdenken müsse. "Wir brauchen Budget, um Geschichten in Ruhe zu entwickeln und um gewappnet zu sein, falls dann eben die Realität doch nicht so will, wie das Drehbuch. Wir müssen, alle zusammen, diese verschiedenen Formate im Dokumentar-Bereich neu definieren."

Jochen Köstler © Constantin Entertainment Jochen Köstler
Jochen Köstler von Constantin Entertainment sagt, man müsse nicht nur einem kurzfristigen Hype gerecht werden. Es gehe vielmehr darum, einen "einen nachhaltigen Beitrag für eine Branche zu produzieren, die einem wirklich extrem hohen Qualitäts- und Faktenanspruch genügen muss". Köstler: "Dokus verlangen ein Höchstmaß an Energie, Zeit und kreativem Personal - so etwas lässt sich nicht neben tausend anderen Themen nebenbei organisieren und realisieren. Du musst es richtig machen, oder du lässt es besser bleiben." Darin, dass nun gleich mehrere Firmen eigenständige Doku-Einheiten ausgliedern, sieht keiner der befragten Doku-ProduzentInnen eine Gefahr. "Weltweit gibt es kein Land, dessen Doku-Output durch eine einzige Firma gespeist wird", sagt Köstler. Und Marc Schlömer von Doc.Banijay ist der Meinung, dass der deutsche Doku-Markt noch einiges aufzuholen habe im Vergleich zu anderen Ländern, wo es schon seit Jahren viele große Player gebe. Am Ende gewinne immer die stärkste Geschichte, sagt Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel. Und Marc Lepetit ergänzt: "Es gibt, gerade in der Dokumentation und im journalistischen Arbeiten, immer verschiedene Perspektiven und jede hat ihre eigene Rechtfertigung."

Aber wird für bestehende Unternehmen der Wettbewerb durch die neuen Player nicht härter und vielleicht auch schwieriger? Carsten Oblaender von Story House winkt ab: "Unsere Begeisterung für Dokumentationen und Docutainment-Programme motivierte uns vor über 20 Jahren zur Gründung von Story House, sie sind sozusagen Teil unserer DNA. Wir sehen in diesem Trend und in neuen Playern also keine Gefahr – im Gegenteil: Wettbewerb belebt das Geschäft", sagt er im Gespräch mit DWDL.de. Die Integration des Unternehmens in die Bavaria Film sei eine "Win-win-Situation" für beide Seiten, sowohl strategisch, als auch inhaltlich. "In einem sich konsolidierenden Markt hat Story House nun als Teil eines der Top-5-Produktionsunternehmen Deutschlands ganz andere Möglichkeiten, die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung seines Premium-Contents bestmöglich zu gewährleisten."

"Lovemobil": Was bleibt? 

Neben den Neugründungen hat in den zurückliegenden Monaten ein Doku-Thema alle in der Branche bewegt: Die Irreführungen in der NDR-Doku "Lovemobil" und der Umgang mit ihnen. Man müsse mit Schwierigkeiten immer offen umgehen, sagt Marc Schlömer von Doc.Banijay. "Nachgestellte Szenen müssen als Inszenierung für jeden erkennbar sein und belegbar den Tatsachen entsprechen." Marc Lepetit von der UFA sagt, man müsse im Vorfeld definieren, was Fiktion und was Realität sei. Und Gwendolin Szyszkowitz-Schwingel sieht in dem Fall ein Kommunikationsversagen. "Es wäre es doch möglich gewesen, gewisse Szenen nachzustellen. Aber es wurde nicht (rechtzeitig) darüber gesprochen und das ist natürlich ein Vertrauensmissbrauch – auch gegenüber den ZuschauerInnen." Und Vertrauen sollten TV- und Flimemacher sowieso nie missbrauchen, erst recht nicht die Dokumentafilmerinnen und Dokumentarfilmer.