Lange Zeit galt Netflix als eine Art Blaupause für andere Streaming-Anbieter. Dazu gehörte auch das Veröffentlichungsmodell von Serien bei Netflix: Mit der Strategie, komplette Staffeln einer Serie auf einen Schlag zu veröffentlichen, schuf man quasi im Alleingang den Begriff "Bingewatching", das exzessive Schauen mehrerer Folgen oder sogar ganzer Staffeln am Stück. Während deutsche Akteure wie RTL+ oder die ARD mit ihrer Mediathek diesem "Binge-Modell" bis heute folgen, sind andere Branchenriesen in der USA schon davon abgekommen: Disney und mittlerweile auch Warner setzen in ihren hauseigenen Streamingdiensten beispielsweise nahezu ausschließlich auf das klassische TV-Modell: eine Folge, Woche für Woche.

Dabei scheint das Modell von Netflix auf den ersten Blick ganz logisch. Es folgt dem Versprechen der Streaming-Angebote: Die Zuschauenden sollen ihr Programm selbst bestimmen dürfen. Ist ein Staffelfinale erst zehn Wochen nach Auftakt verfügbar, ist das kaum zu erfüllen. Eine logische Fortentwicklung der starren, von Programmdirektoren bestimmten Pläne linearer Sender also? Dieser Meinung ist man jedenfalls bei RTL Deutschland: "Wir möchten den Usern die Möglichkeit geben, ganz in die Geschichte einzutauchen und sie am Stück zu konsumieren oder eben so, wie sie es möchten", sagt RTL+-Programmdirektorin Frauke Neeb gegenüber DWDL.

Doch diese Strategie bringt eben auch Probleme mit sich, die auch mit der Entwicklung der Streamingwelt in den letzten Jahren zu tun haben. Was als Spielwiese für Reed Hastings begann – lange Zeit hatte Netflix kaum ernstzunehmende Konkurrenten – ist nun ein Markt, der zunehmend gesättigt ist. Mit Disney+, Paramount+, Apple TV+, Prime Video, hierzulande noch Sky Ticket, RTL+, Joyn, in den USA noch HBO Max sind mittlerweile quasi alle Branchenriesen mit einem eigenen Angebot am Start.

Das bedeutet aber auch: Es ist längst nicht mehr möglich, das eigene Angebot mit geschickten Einkaufen bereits bestehender Formate zu füllen. Denn: Wenn jeder Player einen eigenen Streaming-Service hat, verkauft niemand mehr seine Programme an die direkte Konkurrenz. Die Folge: Der Kampf um die renommiertesten Eigenproduktionen ist in vollem Gange. Und das kostet. Woche für Woche eine komplette neue Serie zu veröffentlichen, wird immer mehr zu einer zu teuren Gewohnheit.

Das Buch von Boba Fett © Disney+ "Das Buch von Boba Fett" wird im wöchentlichen Rythmus veröffentlicht.
Die Investitionen sind inzwischen in schwindelerregende Höhen geklettert, Netflix investierte in den letzetn beiden Jahren je 17 Milliarden US-Dollar in eigene Inhalte - und die sind dann so zahlreich, dass selbst ambitionierte Serien-Fans kaum hinterherkommen. Disney, Warner & Co. gehen dabei einen scheinbar leichteren Weg, indem sie zurück zum wöchentlichen Veröffentlichungs-Modell, wie man es vom linearen Fernsehen kennt, gehen. Wenn Disney den Space-Western "Das Buch von Boba Fett" mit seinen sieben Folgen nur schrittweise veröffentlicht, sind Interessierte sieben Wochen an ihr Abonnement gebunden – und zwar durch eine Serie statt durch sieben verschiedene. Die Unternehmen versuchen damit, mit einer Serie eine "Langzeitbeziehung" mit dem Zuschauer einzugehen. Wie es im linearen TV jahrelang erfolgreich praktiziert wurde – man erinnere sich an "Lost".

Doch vom finanziellen Aspekt mal ganz abgesehen: Jede Woche auf eine neue Folge hinzufiebern, kann ja auch ein Teil des Vergnügens sein. Gerade Formate, die einen hohen "Buzz" erzeugen, können von dieser Ausspiel-Methode profitieren. Ein verhältnismäßig junges Beispiel: Die finale Staffel der Blockbuster-Serie "Game of Thrones", die im Jahr 2019 den Höhepunkt eines globalen Phänomens darstellte. Für sechs Wochen stand das Internet im Ausnahmezustand, jede Folge wurde bis ins kleinste Detail digital und am Mittagstisch auseinandergenommen, über die nächste Folge wurden die absurdesten Theorien geschmiedet – ein Effekt, der mit einer Veröffentlichung auf einen Schlag wahrscheinlich deutlich weniger Kraft gehabt hätte.

Auch andere Programme können diesen Effekt nutzen: "Beliebt ist der wöchentliche Austausch zum Beispiel bei Formaten, die auf ein Finale mit einer Entscheidung zulaufen, wie zum Beispiel 'LOL: Last One Laughing'. Andere Produktionen eignen sich hingegen wieder eher zum Binge-Watching", sagt Head of Entertainment PR für Prime Video im DACH-Raum, Michael Ostermeier.

Sophie Burkhardt © ARD Presse / Funk / Anke Kristina Schäfer ARD-Programmdirektorin Sophie Burkhart
Eine Entscheidung von Fall zu Fall also? Zu fiktiven Stoffen würde eine Veröffentlichung auf einen Schlag aus Nutzerperspektive durchaus passen, meinte die stellvertretende ARD-Programmdirektorin Sophie Burkhart kürzlich im Interview mit DWDL.de. "Bei fiktiven Serien ist das Erlebnis, wenn man sie schaut, wie ein gemeinsamer Urlaub. Die Zeit ist sehr intensiv – dann ist sie aber auch wieder weg", sagt sie. Jede Woche zu publizieren könne bei einem SVoD-Dienst aus Nutzersicht frustrierend werden, wenn die regelmäßige Bezahlung aufrecht erhalten werden muss, nur um eine einzelne Serie weiterschauen zu können. Trotzdem würde man mit beiden Strategien experimentieren.

  • In der Konzeption einer Serie ändere sich bei beiden Veröffentlichungsstrategien indes nichts, so RTL+-Programmdirektorin Frauke Neeb: "Auch wenn eine komplette Staffel zur Verfügung gestellt wird, muss jede Episode so erzählt werden, dass es am Ende einen Anreiz gibt, weiterzuschauen – egal ob direkt danach oder eine Woche später." Cliffhanger sind am Ende also immer noch Cliffhanger.

Netflix steht mit seinem generellen Festhalten an der Binge-Strategie in den USA jedenfalls langsam alleine da. Nach den erfolgreichen wöchentlichen Programmierungen von Serien wie "Euphoria", "Succession" oder "Peacemaker" auf Warners HBO Max ist die Phase der Experimente für Casey Bloys, HBO Programming-Chef, abgeschlossen. "Jedes Mal werde ich daran erinnert, dass wöchentliche Folgen der richtige Weg sind. Wenn man alle Episoden auf einmal veröffentlicht, lässt man vieles auf dem Tisch liegen", sagte er jüngst in einem Interview mit Bloomberg.

Das dürfte auch deutsche Akteure aufhorchen lassen. Denn abseits der wirtschaftlichen Gründe für ein wöchentliches Veröffentlichungsmodell spielt auch das Verhältnis der Zuschauer zu der immensen Zahl von "streamable Content" eine Rolle. Denn: Sind wir nicht alle ein wenig ausgebrannt von dem wahnsinnigen Rennen darum, möglichst viel aus den sich pausenlos erweiternden Serienbibliotheken mitzunehmen? Für viele ist der Streaming-Überfluss inzwischen zu einer reichlich anstrengenden Angelegenheit geworden. Entspanntes lineares Fernsehen – man glaubt es kaum – wird dagegen bisweilen romantisiert.

Eine wöchentliche Veröffentlichung von Episoden wird einen Streaming-Burnout nicht heilen können. Ohne die Möglichkeit, eine komplette Staffel in einem Rutsch durchzuziehen, ergibt sich aber vielleicht endlich wieder die Gelegenheit, mal Luft zu holen. Dass Disney+ und HBO Max mit ihren Strategien ebenfalls erfolgreich sind, könnte über kurz oder lang auch bei Netflix noch zu einem Überdenken der Strategie führen. Manchmal sollte man alte Gewohnheiten eben nicht völlig über Bord werfen.