Es muss wohl erst einiges passieren, bevor zwei Serienerfinderinnen aus eigener Tasche eine Studie finanzieren, die ihr ungutes Gefühl in handfeste Zahlen übersetzt. "Bei Premieren haben wir uns am Anfang einen Spaß daraus gemacht, die männlichen Verantwortlichen auf der Bühne zu zählen – und mit der Anzahl der weiblichen zu vergleichen", schreiben Kristin Derfler und Annette Hess im Begleitwort zu ihrer "Serienstudie 2022". "Aber der Spaß hat sich schnell in eine große Sorge verwandelt." Allen Absichtserklärungen und Diversitätsinitiativen der Branche zum Trotz schienen um sie herum hauptsächlich Männer mit ihren Serienideen zum Zuge zu kommen.

Der Eindruck täuschte nicht: Nur 16,7 Prozent der deutschen Serien, die zwischen 2017 und 2021 in TV und Streaming erstausgestrahlt wurden, haben eine Frau als Creator. Über die Positionen Creator, Showrunner, Headwriter und Drehbuch hinweg liegt der Frauenanteil im Durchschnitt bei 22 Prozent. Den höchsten Anteil erreichen "normale" Drehbuchautorinnen mit 34,3 Prozent des Gesamt-Outputs. Das geht aus der Serienstudie hervor, für die die von Derfler und Hess beauftragte Expertin Belinde Ruth Stieve insgesamt 146 verschiedene Serien mit 202 Staffeln – geschrieben von 696 Autorinnen und Autoren – untersucht hat.

Gerade einmal elf Autorinnen konnte Stieve ausfindig machen, die in diesen fünf Jahren des anschwellenden Serienbooms als Creator fungierten: Jana Burbach, Jantje Friese, Annette Hess, Valérie Lassere, Sonja Schönemann, Nele Mueller-Stöfen, Veronica Priefer, Anna Stoeva, Julia von Heinz, Marianne Wendt und Anna Winger. Demgegenüber stehen 60 Männer, von denen sechs (Christian Alvart, Hanno Hackfort, Philipp Käßbohrer, Bob Konrad, Arne Nolting, Jan Martin Scharf, Jörg Winger) je zwei Serien kreiert haben und einer (Richard Kropf) sogar drei. Da die Studie nach geförderten und ungeförderten Produktionen sowie nach Episodenlängen unterscheidet, lässt sich ablesen, dass der weibliche Creator- und Showrunner-Anteil bei längeren Formaten (über 40 Minuten) und bei Serien mit Filmförderung etwas höher liegt, sprich: die 20-Prozent-Marke erreicht.

An einer generellen Knappheit schreibender Frauen kann es nicht liegen: Die Drehbuch-Absolventen deutscher Filmhochschulen sind zu etwa 60 Prozent weiblich. Unter den Auftraggebern schneiden ZDF, RTL, Joyn, Magenta TV und Warner TV besonders schlecht ab, weil dort ausschließlich Männer als Creator zum Zuge kamen. Netflix, Amazon und Sky liegen demnach zwischen 10 und 20 Prozent, die ARD bei 50 Prozent Frauenanteil. Zum Vergleich: Im US-Markt hatten 2020/21 laut einer Studie der San Diego State University 30 Prozent der Streaming- und 22 Prozent der Broadcast-Serien weibliche Creator.

Kristin Derfler, Annette Hess © Tiana Lenz "Gegen Mauern": Kristin Derfler und Annette Hess (v.l.) wünschen sich mehr Serien von Frauen
"Es kann nicht sein, dass 83 Prozent aller Serienideen eine männliche Sicht auf die Welt haben und die halbe Menschheit als federführende Erzählstimme nicht abgebildet wird", sagt Kristin Derfler im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de. Und Annette Hess fährt fort: "Was mich wirklich erschreckt: Je näher man an den Ursprung einer Serie, an die Vision herangeht, desto weniger Frauen findet man vor. Haben Frauen etwa keine guten Ideen? Oder ersticken sie ihre Ideen gleich wieder, weil sie bereits ahnen, dass sie eh keine Chance bekommen werden?" Die eingangs beschriebene "Mauer aus Anzügen" bei Premieren wirke "demotivierend auf junge Autorinnen". Zur Verteilung der Rollen zwischen Creator/Showrunner und weisungsgebundenen 'Staff Writers', wo Frauen immerhin mehr als ein Drittel ausmachen, merken Hess und Derfler an: "Männer bestimmen die Welt, geben die Perspektive vor, Frauen machen die Arbeit."

 

"Frauen werden systematisch von Jobs und Honoraren ausgeschlossen. Das muss sich dringend ändern"
Annette Hess

 

Die beiden Auftraggeberinnen der Studie sind selbst gut im Geschäft und können sich nach eigenem Bekunden nicht beschweren. Hess arbeitet momentan gemeinsam mit der Produktionsfirma Gaumont am Packaging der Miniserie "Deutsches Haus", die auf ihrem gleichnamigen Bestseller-Roman basiert und wohl bei einer Streaming-Plattform landen dürfte. Derfler ist gerade erst aus Wuppertal von den Dreharbeiten zu ihrer von Warner Bros. produzierten Thriller-Serie "Zwei Seiten des Abgrunds" für RTL+, HBO Max und Warner TV Serie zurückgekehrt. Dennoch ist das Prestigeprojekt ein Beispiel dafür, was schief läuft: "Bis die Serie realisiert wurde, hat es insgesamt vier Jahre gedauert – inklusive Senderwechsel", berichtet Derfler. "Ohne Ausdauer, Energie und meine großartigen Kölner Produzent:innen hätte ich das nicht geschafft. Jetzt, nachdem wir abgedreht haben, rufen plötzlich Fernsehspiel-Chefs an, warum wir ihnen das Projekt nicht zuerst angeboten hätten. Die Wahrheit ist: Es lag schon 2018 in der Konzeptionsfassung monatelang und ungelesen bei denen – aber man läuft einfach gegen Mauern. Wenn es mir schon so geht, wie soll es dann erst jungen Kolleginnen mit weniger Erfahrung gehen?"

Wer darauf setzt, dass die weibliche Teilhabe mit fortschreitender Zeit automatisch wachse, wird von der Studie eines Besseren belehrt. Um die reale Entwicklung beinahe in Echtzeit abschätzen zu können, wurden nämlich auch noch 88 neue Serienstaffeln ausgewertet, die zwischen Januar und Mitte April erstausgestrahlt oder gedreht wurden. Die männliche Dominanz hat sich demnach noch verstärkt – von 83 auf knapp 90 Prozent der Creator. "Frauen werden systematisch von Jobs und Honoraren ausgeschlossen", resümiert Hess. "Das muss sich dringend ändern. Vor allem öffentlich-rechtliche Sender und Filmförderungen stehen in der Verantwortung, mit einer konsequenten Quotenregelung gegenzusteuern."

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