Qualität, Altsprachkundige wissen das vermutlich ein bisschen besser als Fernsehschaffende, hat zunächst mal wenig mit Güte zu tun. Wortwörtlich beschreibt das lateinische qualitas ja nur die Beschaffenheit von irgendetwas – egal, ob gut oder schlecht. Ach ja: und mit Qualen hat sie allenfalls dann zu tun, wenn sie fehlt, also die Qualität. Womit wir beim TV-Angebot wären. Denn was genau daran gut oder schlecht ist, bleibt wohl auch nach der TeleVisionale Baden-Baden unbeantwortet, aber ihr künstlerisch Verantwortlicher Urs Spörri hat das rundumerneuerte Traditionsfestival schon mal vorsorglich zum Gesprächsforum dazu erklärt.

„Lasst uns über Qualität reden“, sagte er im DWDL.de-Interview und führte den Begriff noch weitere sieben Mal im Munde – was allerdings noch gar nichts im Vergleich zum lokalen Kurhaus ist, wo seit Montag 500 Fernsehbeteiligte aller Gewerke gemeinsam versuchen, die Güte deutschsprachiger Filme und Serien zu ergründen. Und sei es so kontrovers wie am Dienstag, als Jan Josef Liefers‘ Biopic „Honecker und der Pastor“ im Wettbewerb läuft.

Während der sechsköpfigen Jury um Regisseur Dominik Graf die gesellschaftspolitische Grundierung des zehnwöchigen Exils vom Diktator nebst Gattin beim Geistlichen und seiner Lieben fehlt, bekommt ein Zuschauer lauten Applaus für sein Flehen, dieses „großartige Kammerspiel“ doch einfach mal als „großartiges Kammerspiel“ zu akzeptieren. Klingt entzweit, ist aber vereinend. Denn für diesen Diskurs zwischen Kritik und Kreativen „liebe ich Baden-Baden“, moderiert Gesprächsleiter Spörri den Disput auf offener Bühne emotional ab und zeigt damit, dass Qualitätsdebatten auch Definitionsdebatten sind.

Dass sie auch Richtungsdebatten sind, macht einen Tag und vier Filme später der Jury-Präsident höchstpersönlich klar: „Unterhaltung wird immer dümmer und Arthaus immer arthausiger“, krönt Dominik Graf seinen furiosen Verriss des Boris-Becker-RTL-Starschnittes „Der Rebell“, dessen Regisseur Hannu Salonen – ohne Ironie – herzlich für die Schelte sämtlicher Juroren dankt und DWDL gegenüber Qualität als „das erste Gefühl beim Lesen eines Drehbuchs an die Zuschauer weiterzugeben“ definiert.

Folgt man dem unerbittlichen Schiedsgericht, hätte der deutsch-finnische „Tatort“-Veteran also besser mal das zweite, dritte, zehnte Gefühl beim Lesen von Richard Kropfs und Marcus Schusters Vorlage an die Zuschauer weitergegeben. Folgt man dem Saalpublikum, ist es mit dem ersten offenbar ganz zufrieden. Es bleibt kompliziert. Weshalb wir die Qualitätsdefinitionen ausgesuchter Festival-Gäste hier mal zitatweise wiedergeben. Jan Josef Liefers zum Beispiel beschreibt die Güte guter Filme wie seinem pastoralen Honnocker-Schwank als „das, was man darüber hinaus noch erreichen möchte“, während der Chef-Dokumentarist des mitveranstaltenden SWR, Eric Friedler findet: „Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte.“

Honnecker und der Pastor © Sophie Schüler "Honnecker und der Pastor": Das Filmteam um Jan Josef Liefers.

Für die ehemalige HR-Spielfilmchefin Liane Jessen dagegen besteht das wichtigste Qualitätsmerkmal ihrer grandiosen „Tatorte“ von Sänger bis Murot oder Dellwo bis Mey in „Leidenschaft, die keine Regeln kennt“, was der fleißig podiumsdiskutierende Blockbuster-Regisseur Sönke Wortmann zwar zurecht mit „ein paar Regeln sind ja auch nicht schlecht“ einschränkte. Aber Jessens Umschreibung fiktionaler Perfektionsannäherungen ist so betörend, dass es zwingend ein Film sein muss, der Dominik Grafs energisch beklagte Gräben durch Entertainment und Arthaus, also E & U überbrücken hilft. Am Mittwochmittag nämlich läuft Marie Kreutzers krimigrundiertes Gesellschaftsdrama „Vier“, und dass sich Kritik, Kreative und Publikum nochmals so einig mit der Jury sind, wäre mit Überraschung noch zurückhaltend umschrieben.

Die deutsch-österreichische Koproduktion um skelettierte Kinderleichen, deren Fund das konservativ-katholische Normengerüst einer alpinen Kleinstadt mit Großstadtthemen wie Inter- und Homosexualität, Emanzipations- oder Empowermentdiskursen zerrüttet, wird auch deshalb so einhellig bejubelt, weil die Regisseurin das knüppelharte Sujet nach eigenem Drehbuch mit einem Humor jenseits berechneter Pointen und Punchlines aus der Tiefe ihrer Charaktere verarbeitet. Nach runden 50 Prozent des Baden-Badener Festivals hat kein anderer Beitrag Ernst und Leichtigkeit so virtuos, so unaufgeregt, so haltungsstark und ästhetisch anspruchsvoll miteinander verwoben.

Sichtlich gerührt nennt die vielfach preisgekrönte Grazer Autorenfilmerin „Liebe des Buchs zu den Figuren“ denn auch als Ursache ihrer Vortrefflichkeit – was die ähnlich ergriffene Jurorin Lisa Gotto noch ein bisschen anrührender zusammenfasst: „Respekt bis zur Zärtlichkeit.“ War’s das also? Stein der Weisen entdeckt? Gute Beschaffenheit ohne Qualen definiert? Natürlich nicht! Qualität bleibt ein endloses Suchen, Tasten, Wollen, Können, Scheitern, Weitermachen – dem Urs Spörri im DWDL.de-Interview sein Festival als freizugänglichen Raum anbot, in dem „alle Beteiligten wichtige Impulse aus unseren Qualitätsdebatten ziehen“. Das immerhin ist der TeleVisionale schon zur Halbzeit gut gelungen. Fortsetzung folgt.

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