So rüde wie mit "In aller Freundschaft" unmittelbar nach dem Sendestart im Herbst 1998 umgegangen wurde, geht es in der Serie selbst selten zu. Als "Totgeburt" wurden die Geschichten aus der Sachsenklinik damals bezeichnet. Die Medical-Weekly startete im Ersten drei Jahre nach der ersten Folge des einstigen Sat.1-Quotenhits "Für alle Fälle Stefanie" und zwei Jahre nach dem "Alphateam", in jedem Fall also zu einer Zeit, in der werbefinanzierte Sender in nicht unerheblichen Umfang auf Klinik-Weeklys zur besten Sendezeit setzten. Sven Sund, heutiger CEO und Produzent der herstellenden Firma Saxonia Media, verfolgte die Geburt der Sachsenklinik als Zuschauer. Er stieß selbst erst 2002 zum Unternehmen. "Zunächst als Ein-Strang-Serie erzählt, funktionierte das Format nicht. Man stoppte den Dreh und führte die 'Zwei-Strang-Dramaturgie' ein, wie man damals sagte. Mit großem Erfolg, wie man heute noch sehen kann", erinnert sich der Fernsehmacher an die frühen Folgen aus dem fiktiven Leipziger Krankenhaus.



Cecilia Malmström © Saxonia Media Cecilia Malmström
Dass die damaligen ARD-Entscheider ermöglicht haben, "diesem großen Tanker eine Kurskorrektur" zu gönnen, müsse man ihnen hoch anrechnen. Angehalten und neu navigiert wurde also kurz nach dem Start der Krankenhausserie. Etwas, das heute, so sagt Sund, "sicher nicht mehr möglich" wäre. Die Kurskorrektur brachte "IaF" dann in die Spur und trug das Format nicht nur über Hürden, sondern auch über so manche Häme hinweg. Am Dienstag läuft die 1000. Folge im Ersten. "Die Serie lebt davon, dass sie Freundschaft, Stabilität und Loyalität erzählt – und sie wird dafür gerne belächelt. Aber genau diese Werte werden bei uns am Set und im Team auch gelebt", sagt Cecilia Malmström, seit knapp einem Jahr zuständige Produzentin für "IaF".

"IaF" entsteht nicht, wie zahlreiche andere Serien in den großen Medienmetropolen Deutschlands, sondern in Leipzig – und das mit besonderem Miteinander. "Schon immer, damals wie heute, sind wir darauf bedacht, Teammitgliedern, einen Weg im Sinne der persönlichen Weiterentwicklung aufzuzeigen und diesen Weg mit ihnen gemeinsam zu gehen, von der Setrunnerin zur Herstellungsleitung, um nur ein Beispiel zu nennen.  'In aller Freundschaft' ist ein Teil der Saxonia Media, die ganze Saxonia lebt aber auch 'die Freundschaft'. Um gut zu sein, braucht man die Basics des Miteinanders – nur so lassen sich Ziele erreichen", sagt Sund und erzählt dabei ähnlich herzlich wie seine Serie selbst.

Pause von den Problemen

Dass "In aller Freundschaft" auch 2023 pumperlgesund ist – und pro Folge mehr als fünf Millionen Menschen (Mediathekenabrufe inkludiert) zuschauen, ist nicht selbstverständlich. Die Pandemie und die damit verbundenen schlimmen realen Krankenhausbilder haben der Sachsenklinik jedenfalls nicht geschadet. Nicht unwahrscheinlich, dass das damit zusammenhängt, dass das Krankenhaus noch keinen einzigen Covid-19-Erkrankten gesehen hat. "Wir wollten dem Zuschauer am Dienstagabend eine Pause schenken von der permanenten Beschallung mit den echten Krankenhausbildern. Schließlich erschaffen wir ein eskapistisches Format und keine Dokuserie", sagt Malmström. Ihre Serie liefert am Ende der Folge in aller Regel ein Happy End. Das wissen die Fans.

Sven Sund © Tom Schulze Sven Sund
Auch 2020 blieb die "Freundschaft" sich somit treu, wie Sund ausführt. "'In aller Freundschaft' ist nie unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen oder frühere Epidemien eingegangen. Das gibt uns zudem die Möglichkeit  mit fundierterem Wissensstand diese Sachverhalte komplexer erzählen und abbilden zu können. Wir arbeiten mit einem Vorlauf von einem halben Jahr. Die Pandemie nun nicht abzubilden, war auch vor diesem logistischem Hintergrund richtig. Es hätte also sein können, dass wir die Pandemie in der Serie haben, obwohl sie schon vorbei ist." Interessant sei, so Malmström, dass "IaF" während der Pandemie gar junges Publikum dazugewann. "Vermutlich weil sich auch Jüngere seit 2020 mehr mit Krankheiten beschäftigt haben – vielleicht auch durch die erfolgte Auseinandersetzung mit der Endlichkeit – ist das Publikum jünger geworden", so Malmström.

Endlich waren auch andere Krankehausformate im deutschen Fernsehen. Stefanie, Stefan Frank, die Crew des Alphateams – allesamt sind sie mittlerweile verschwunden. Jüngste Versuche von RTL, wieder eine Medicalserie im Abendprogramm zu etablieren, scheiterten schnell, wie die "Nachtschwestern" zeigen. Und auch Sat.1 wurde mit Versuchen wie "Dr. Molly & Karl", eine ungelenke Antwort auf den einstigen "Dr. House"-Hpye, nicht glücklich. Und so halten mit Blick auf Krankenhaus-Weeklys drei öffentlich-rechtliche Formate die Fahnen hoch – neben dem Original-"IaF" auch ein Vorabendableger rund um junge Ärzte und das 2015 gestartete und von Network Movie kommende "Bettys Diagnose", das im Zweiten am Freitagvorabend läuft und der 200. Folge entgegen geht. "Dass wir mit 'Bettys Diagnose' auf dieses Jubiläum zusteuern, freut uns sehr. Die Serie ist ein sehr gutes Beispiel für modernes Erzählen am Vorabend und dabei sehr erfolgreich", behaupten ZDF-Redakteurin Jasmin Verkoyen und ZDF-Redakteur Söhnke Vesper.

Emtional und humorvoll

Auch die Geschichten der fiktiven Karlsklinik haben sich in den rund acht Jahren gewandelt – am deutlichsten übrigens zur vierten Staffel, als mit einem Hauptdarstellerinnenwechsel auch die Entscheidung einherging, die pro Jahr bestellte Folgenanzahl deutlich und auf 26 hochzudrehen - was einer Verdoppelung gleich kam. "Durch diese Entscheidung war klar, dass auch die Dramaturgie der Serie angepasst werden muss. Wir haben 'Bettys Diagnose' zu einer Serie entwickelt, in der unsere Betty zwar immer noch im Mittelpunkt des Geschehes steht, wir uns aber auch stärker den Geschichten unserer Nebenfiguren widmen. Damit ist eine Ensemble-Serie entstanden, in der die episodenübergreifenden, privaten Geschichten unserer Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen dafür sorgen, dass die Zuschauer*innen über die Vielzahl der Folgen dranbleiben", sagt Vesper. Gleich geblieben, ergänzt Verkoyen, sei indes die Tonalität der Vorabendserie: "So kann sich der Zuschauende immer noch über eine besondere Mischung aus emotionalem und humorvollem Erzählen freuen, die sich neben unseren Hauptfiguren strukturell pro Episode weiterhin aus einem emotionalen und einem komödiantischen Patientenfall ergibt."

Angepasst wurde stetig der Look der Produktion - Farbgebung, Lichtgestaltung oder Motivauswahl wurden sukzessive angepasst. In diesen Punkten steht "Betty" im Einklang mit "In aller Freundschaft", wo größere Veränderungen zeitnah anstehen. "Für die Staffel, die wir gerade produzieren und die im März startet, wird es einen neuen Look geben. Es gibt ein neues Logo, eine neue Bildsprache. Permanent überdenken wir Kostüm und Maske. Mit Blick auf die Geschichten wollen wir noch mehr Highlights setzen. Wir setzen vermehrt auf Leuchtturm-Folgen", erklärt Produzentin Cecilia Malmström. Parallel dazu sollen Strategien entstehen, wie die Serie in der Mediathek noch stärker werden kann – "etwa über horizontales Erzählen". In der Karlsklinik sollen die Geschichten künftig, so sagen es Verkoven und Vesper, noch diverser werden.

Vorbild in Sachen Diversität

Ein Punkt, dem sich "In aller Freundschaft" ganz besonders angenommen hat. So ist es dort beispielhaft, dass mit Tan Caglar ein im Rollstuhl sitzender Schauspieler als Arzt zu sehen ist. In der Vorabendserie mischt seit geraumer Zeit die taube Schauspielerin Kassandra Wedel mit. Diverser zu sein und zu werden, sei eine Selbstverständlichkeit, meint Sven Sund. "Wir thematisieren Dinge, die früher tabuisiert wurden,  wie zum Beispiel  Geschlechtsumwandlungen, selbstbestimmtes Sterben, die Konsequenzen für den Arzt, wenn er ein noch nicht zugelassenes Medikament einsetzt, um ein Menschenleben zu retten und vieles mehr." Eventuelle Kritik halte man aus.

Ein dickes Fell zu haben, das schadet wohl nicht. Weder "In aller Freundschaft" noch "Bettys Diagnose" stehen im Verdacht, die Speerspitze seriellen Erzählens zu sein. Und auch wenn beide Redaktionen beteuern, auf medizinische Korrektheit größten Wert zu legen, so zeichnen die Formate unter dem Strich ein stark geschöntes Bild der Krankenhauswirklichkeit. So farbenfroh-fröhlich-modern wie auf der Station der Karlsklinik sieht es in Deutschland vermutlich auf wenigen Privatstationen aus, so entspannt und nett dürfte das Arbeiten für das Personal nirgends sein. "Die Sachsenklinik ist eigentlich das Krankenhaus, in das man als Patient selbst gern eingeliefert werden möchte", sagt Sven Sund. Eine "positive Ausflucht aus dem Alltag" solle "Bettys Diagnose" bieten, heißt es seitens des ZDF. Deshalb sei "Bettys Diagnose" "schon immer auf unterhaltenes Erzählen ausgerichtet, welches sich besonders durch seine humorige Note auszeichnet." Die Karlsklinik stehe für einen "Ort der Verlässlichkeit, der für Momente der Entlastung sorgen kann." Nach ZDF-Angaben wird das auch auf Abruf goutiert – neben den "Rosenheim-Cops" habe "Betty" unter den Vorabendserien die besten Abrufe in der Mediathek.

Auch deshalb siehen Verkoven und Vesper "Bettys Diagnose" trotz linear durchschnittlicher Quoten auch in den nächsten Jahren als "wichtigen Bestandteil" des ZDF-Programms. "Ein Medical, welches zum Großteil im Krankenhaus spielt, hat den Vorteil, dass man hier mehr oder weniger in einem closed set dreht, welches ökonomisches und verdichtetes Erzählen ermöglicht." Teure Außendrehs sind nicht Teil der Erzählwelt. Auch das mag Krankenhaus-Serien für beauftragende Sender attraktiv machen. Und auch in der Sachsenklinik ist noch lange nicht Schluss. Der MDR-Rundfunkrat hat erst in dieser Woche grünes Licht dafür gegeben, dass "In aller Freundschaft" erneut um zwei Staffeln verlängert wird. Die "Totgeburt" war also eine krachende Fehldiagnose.