Wir leben in einer Scheinrealität. Digitalportale machen uns zu smarteren, schöneren, cooleren, erfolgreicheren Avataren unserer selbst. Mit Deepfake poliert KI voroptimierte Oberflächen nach, was Chatbots wie GPT künstlich betexten. Kaum jemand geht noch als Originalversion auf soziale Plattformen, kaum ein Lebenslauf bleibt ungeschönt, kaum ein Statement authentisch. Und wenn öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihre Relevanz betonen, gilt noch die deppertste Dokusoap als Information oder das dämlichste Rührstück als Drama. Wie gut, dass RTLzwei wenigstens ehrlich ist.

Hier gibt es keine Mätzchen, kein Getue, null Anschein feuilletonistischer Bedeutsamkeit, hier gibt sich unsere Klassengesellschaft 2.0 auf die Zwölf soziokultureller Frontberichterstattung und niemand sucht dafür noch nicht mal nach Ausflüchten. Es regiert, was Harald Schmidt zehn Jahre nach dessen Erwähnung in der „Titanic“ 2005 „Unterschichtenfernsehen“ nannte: Programm von und mit einer Klientel, die sonst von oben oder von unten, aber selten mal auf Augenhöhe betrachtet wird. Wenn ein Jan Böhmermann meint:

 

"2,5 Millionen Arbeitslose, oder
wie RTLzwei sie nennt: Zielgruppe"
Jan Böhmermann

 

… dann greift der Berufszyniker also zu kurz. Exakt 30 Jahre nach seiner Gründung mag RTLzwei nämlich nicht alles richtig gemacht haben im Umgang mit der eigenen Zielgruppe. Aber in Konkurrenz zur rasant anschwellenden Flut zweidimensionaler Ersatzbefriedigungen von Paramount+ über die Playstation 5 bis YouPorn hat der Sender wenigstens noch das Zeug, Nähe herzustellen, wo alle anderen sie bloß simulieren.

Denn ob mit Zwei, zwei, ZWEI, II, 2 numeriert: Das Schmuddelkind der Popkultur, vom Hochkulturteil klügerer Medien bestenfalls ignoriert, schlimmer noch zum Gottseibeiuns verschrien, lässt sich einfach nicht wegakademisieren. Es bleibt also ein Fels in der Brandung schnelldrehender Konsumprodukte, die sich mal Stunden (RTL-News), mal Tage (Bild-Kampagnen), mal Wochen (Schoko-Osterhasen), mal Monate (Fidget Spinner), mal Jahre (Bubble Tea) am Markt halten, selbst gemeinsam jedoch nicht das Durchhaltevermögen eines Senders erreichen, der seinen Kritikern seit jeher als überflüssig galt.

 

"Vom Image her immer der kleine schmutzige Asi-Bruder vom großen erfolgreichen Marktführer, für den sich der 'Big Brother' eigentlich etwas schämt, aber er gehört halt zur Familie."
Oliver Kalkofe

 

Dabei hat er dieser Sippe nicht nur genommen, sondern gegeben. Ikonisches Klatschpresseinventar zum Beispiel wie Verona Pooth geb. Feldbusch, die in der liebenswert-lasziven Dildo-Show „Peep!“ 1995 das nimmersatte Boulevardlicht erblickte und nie mehr ganz ausschalten konnte/wollte/durfte. Dazu das Role Model moderner Castingshows, in dem ein empathisch-strenger Detlef D! Soost „Popstars“ wie die No Angels und Bro’sis bühnenfit machte. Oder „Die Kochprofis“, noch vor Christian Rach auf Restauranttestreise.

Von „Big Brother“ schweigen wir an dieser Stelle höflich, weil dazu echt alles doppelt bis dreifach behauptet wurde, aber wer 2023 Fernsehen sagt, darf von „The Dome“ und „Die Geissens“, von „Frauentausch“ oder „Transgender“ nicht schweigen. Was zwischen „Hollywood Matze“ und „Hartes Deutschland“ zudem oft vergessen wird: richtungsweisende Importserien dualer Tage wie „24“ und „Dexter“, „Californication“ und „Twilight Zone“, „The Walking Dead“, der unverwüstliche „X-Factor“ und nicht zu vergessen: „Game of Thrones“. All dies hatte bei RTLzwei Free-TV-Premiere. Dass sie es teils fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit taten, ist da ein lineares Durchschnittsschicksal.

 

"RTLzwei hat das Fernsehen zweifellos bunter gemacht und sich immer wieder auch was getraut. Meistens frech, immer laut und bisweilen mit einigen Perlen im Programm."
Christine Strobl

 

Damit meint die ARD-Programmchefin auch „Köln 50667“ oder „Bella Italia“, die für oberflächliches Fernsehen mit Tiefgang stehen. Während das billige Spin-Off der günstigen Daily Soap „Berlin – Tag & Nacht“ crossmediale Online-Vermarktung linearer Produkte einst in neue Dimensionen katapultierte, zeigt die Dauercamper-Studie nämlich, mit welcher Hingabe sich werbefinanzierter Voyeurismus ausgestalten lässt.

Auch sozialpädagogisch diskussionswürdige Beobachtungsprojekte mit „arm“ oder „Ärger“, „Hartz“ oder „Teenie“ im Titel, grundieren damit eine Aufmerksamkeit, bei denen manch Kritiker zwar die Bloßstellung ihrer Beobachtungsobjekte bemängelt - die diese aber immerhin wahrnehmbar macht und gelegentlich gar zu Subjekten einer Porträtausstellung, in der die Fotografin Magdalena Posselt ihnen mit feinkörniger Färbung ein Stückchen Würde zurückgibt.

 

"RTLzwei hat mich immer daran erinnert, dass zu bunt auch grau gehört."
Michel Abdollahi

 

Weil zu grau aber auch schwarz gehört, zu schwarz auch grell, zu grell auch trüb, zu trüb auch klar, hat RTL Zwei/ZWEI/zwei/II/2 in 30 Jahren Einiges bewegt fürs deutsche Fernsehen, das man nicht besinnungslos feiern muss, aber beachtenswert finden kann. Es hat der Gesellschaft Spiegel vorgehalten, die der Konkurrenz oft zu plump waren, zu prollig, zu geschmacklos, zu schrill. Eher KiK als Manufactum halt, schnelldrehendes Verbrauchsprogramm, aber so viel schlechteres, gar verwerfliches?

Anders als das moralinsaure ARZDF oder das anämische Arte3sat, das launische ProSieben oder das egale Sat.1, vom Mutterkanal zu schweigen, geht dessen Ableger eben auch in dreckige Ecken wohlstandsverwahrloster Gemeinwesen. Manchmal müffelt daher sein Wischwasser, der Mob ist zerzaust und die Putzkolonne macht einiges eher schmutzig als sauber. Dafür buckelt RTLzwei beim Abwärtstreten nicht aufwärts. Dank dieser hartzerfrischenden Unverfrorenheit allerdings benötigt der Jubilar ein besonderes Maß Demut, das wir ihm hiermit herzlich zum Geburtstag wünschen, denn:

 

"Man muss nicht alles senden, nur weil man es kann. Man darf auch Formate senden, die man als Verantwortlicher selber gern schauen würde."
Oliver Kalkofe

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