Man muss sich den April 2023 im Hause Winger wohl wie jenen sprichwörtlichen Monat vorstellen, in dem Weihnachten und Ostern zusammenfallen. Nachdem Jörg Winger seine Frau Anna Anfang des Monats aus vollen Instagram- und Twitter-Rohren beim Start ihrer Netflix-Serie "Transatlantic" unterstützt hat, setzt sie ihre Kanäle nun für seine Premiere ein. Die Berliner Showrunner-Eheleute sind einander wechselseitig die verlässlichsten Cheerleader. Beinahe hätten sie sogar drei Serienstarts in einem Monat zu feiern gehabt, wenn nicht Lionsgate+ kurzfristig aus dem Streaming-Rennen ausgeschieden wäre und eine weitere Winger-Kreation nun eine neue Heimat finden müsste.

Mit dem Launch von "Sam – Ein Sachse", der ersten deutschen Serie für Disney+, öffnet der langjährige UFA-Produzent zum ersten Mal so richtig das Schaufenster seines 2020 gegründeten Labels Big Window Productions. Dessen offizieller Einstieg war "Deutschland 89", die finale Staffel der gemeinsam mit Ehefrau Anna entwickelten "Deutschland"-Trilogie, gewesen. Der internationale Verkaufsschlager, der entscheidend dazu beitrug, das Image von Fiction made in Germany aufzuwerten, gab Jörg Winger den Anstoß für den nächsten Schritt: Anstatt in der Geschäftsführung der UFA Fiction administrative Verantwortung für die Projekte anderer zu tragen, wollte er sich lieber voll und ganz auf die eigenen Ideen als Autor und Showrunner stürzen.

Drei Jahre, eine Pandemie und zwei fertige Serien später hat Winger eine präzise Vorstellung vom Wesen seiner Arbeit entwickelt: "Eine Serie entsteht in der Regel im Zusammenspiel zwischen vielen verschiedenen Playern, deren Interessen nicht immer im Einklang stehen", sagt er im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de. "Entlang dieses Parcours ist es Aufgabe des Showrunners, den Kern der Serie intakt zu halten." Dabei begreife er Schreiben und Produzieren für sich als "sequenziellen Prozess": "Während ich schreibe, habe ich keine Euro-Zeichen vor Augen. Den ökonomischen Kopf des Produzenten schalte ich erst hinterher ein. Mein Vorteil ist dann, dass ich als Autor bei Bedarf gleich eingreifen kann, falls eine Szene zu teuer würde."

Die letzten zwei Jahrzehnte als langen Umweg zu diesem Ziel zu betrachten, wäre sicher übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Denn ursprünglich war Winger nach abgeschlossenem VWL-Studium Mitte der 90er als freier Autor und Journalist angetreten. Einer seiner Auftraggeber war damals die UFA, für die er verschiedene Film- und Serienstoffe recherchierte – ehe der damalige Geschäftsführer Norbert Sauer ihn um die Jahrtausendwende mit der Produktion eines neuen ZDF-"SOKO"-Ablegers in Leipzig betraute. Zur Vorbereitung flog der TV-Neuling nach New York und schaute den Machern der von Tom Fontana und Barry Levinson produzierten NBC-Krimiserie "Homicide: Life on the Street" über die Schulter. Die erste Begegnung mit dem amerikanischen Showrunner-System hinterließ bleibenden Eindruck. Zu Hause in Deutschland galt jedoch als Interessenkonflikt, was im US-Markt längst gang und gäbe war: produzierende Autoren bzw. schreibende Produzenten. Wingers Ausweg: In 17 Jahren und über 300 Folgen "SOKO Leipzig" schrieb er unzählige Drehbücher um, ohne dafür einen Autoren-Credit zu bekommen; ein komplettes Drehbuch verfasste er unter Pseudonym. Vom heimlichen zum offiziellen Showrunner rückte er erst mit "Deutschland 83" auf.

Premiere © Disney+/Hanna Boussouar Strahlende Serien-Schöpfer: Jörg Winger, Tyron Ricketts und Chris Silber (v.r.) feiern die "Sam"-Premiere

Aus den frühen "SOKO Leipzig"-Jahren stammt auch die Idee zu "Sam", der fast unglaublichen, aber wahren Geschichte von Samuel Meffire, dem ersten Schwarzen Volkspolizisten der DDR, der nach der Wiedervereinigung Testimonial für eine Kampagne Sachsens gegen Ausländerfeindlichkeit wurde, später wegen Raubüberfällen ins Gefängnis musste und heute als Trainer für Gefahrenlagen in Bonn lebt. Tyron Ricketts, der ab 2006 den ersten Schwarzen ostdeutschen TV-Kommissar in der Serie spielte, machte Winger auf das packende Schicksal aufmerksam. Die beiden versuchten, den Stoff als Film zu pitchen, bekamen jedoch "überall zu hören, das Publikum sei noch nicht so weit, und zwar mit Worten, die man heute nicht mehr ungestraft sagen könnte", so Winger.

Dass die Zeit anderthalb Dekaden später endlich reif war für den neuen Ansatz als siebenteilige Serie – entwickelt in einem divers besetzten Writers' Room mit Winger und Chris Silber als Headautoren sowie Ricketts als Co-Creator und Koproduzent – zeigte sich dann wiederum ungewohnt deutlich: Mitten im ersten Corona-Lockdown hatte Big Window mehrere Interessenten auf der Meeting-Liste. Während des laufenden Zoom-Calls mit Disney-Entscheidern in München und London gaben diese bereits grünes Licht für das Projekt. "Wir hatten Gänsehaut, als wir die Geschichte erstmals gelesen haben", sagte Disney-Managerin Eun-Kyung Park 2021 im DWDL.de-Interview. Wesentlich für die Umsetzung war Soleen Yusef, die Winger schon bei "SOKO Leipzig" und "Deutschland 89" engagiert hatte und die "Sam – Ein Sachse" als Lead-Regisseurin visuell gestaltet hat.

Die Dreharbeiten im ersten Halbjahr 2022 überschnitten sich infolge Corona-bedingter Verschiebungen fast vollständig mit denen der anderen Big-Windows-Serie "Ouija". Die Koproduktion mit der französischen Fremantle-Tochter Kwaï ("Baron Noir") hat Winger zusammen mit deren Ex-Geschäftsführer Thomas Bourguignon entwickelt und geschrieben. Bourguignon, der auch die Regie übernahm, hatte ähnlich wie Winger 2021 seinen Managerposten aufgegeben, um sich aufs Kreative zu konzentrieren. In einem sechsteiligen Genre-Mix aus Coming-of-Age-Drama und Mystery-Thriller erzählen die beiden von einem deutsch-französischen Schüleraustausch in der Provence während der Fußball-WM 1982, bei dem die Teenager mit ihrer scheinbar harmlosen Séance eine Tragödie heraufbeschwören, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ereignet hat.

Ouija © Kwaï/Big Window/Jean Louis Paris Schüleraustausch in der Provence: Die Koproduktion "Ouija" mixt Coming-of-Age-Drama und Mystery-Thriller

Als Gegenstück zum globalen Buyout von "Sam – Ein Sachse" durch Disney+ hatten Winger und Bourguignon für "Ouija" die eher seltene Konstellation aus öffentlich-rechtlichem TV-Sender (France 2) in Frankreich sowie Streaming-Plattform (Starzplay, später umbenannt in Lionsgate+) im deutschsprachigen Europa, Spanien und Skandinavien mit weiterem Weltvertrieb durch Fremantle zusammengezimmert. Zwar waren die Amerikaner vergleichsweise spät eingestiegen, nämlich als alle Drehbücher schon komplett fertig waren. Dass sie es dennoch ernst meinten, zeigte sich, als zu den Dreharbeiten in Südfrankreich ein elfköpfiges Marketing-Team von Lionsgate aus Los Angeles anreiste, um mit eigenem Zelt und dem Set-Fotografen von "Breaking Bad" ein dreitägiges Shooting durchzuführen.

Doch Anfang November 2022 kam bekanntlich alles anders: Lionsgate blies zum Rückzug aus Deutschland und anderen europäischen Märkten. Die Postproduktion von "Ouija" war zu diesem Zeitpunkt weit fortgeschritten, die Premiere eigentlich für April geplant. Für Winger kollidierten die beiden Welten, als er mit dem "Sam"-Team bei einem Disney-Dinner in München saß und währenddessen auf seinem Handy ungewöhnlich viele Anrufversuche aus London und LA bemerkte, die ihm die Hiobsbotschaft überbringen wollten. Fremantle International hat seither etliche Screenings der fertigen Serie durchgeführt, um die abhandengekommene Plattform zu ersetzen. Die Zahl der Interessenten scheint groß zu sein, eine Entscheidung ist aber noch nicht gefallen. Angesichts dessen hat auch France 2 die Ausstrahlung verschoben, um einen zeitgleichen internationalen Launch zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen.

Von ungeplanten Verschiebungen abgesehen, hat Wingers "sequenzieller Prozess" zur Folge, dass eine neue Phase des Entwickelns und Anbietens erst beginnen kann, wenn die vorherige Phase des Fertigstellens abgeschlossen ist. Dem Namen zum Trotz ist Big Window in seiner gegenwärtigen Aufstellung als Tochter der UFA Fiction eine kleine Boutique: Außer Winger arbeitet dort momentan nur die Producerin Naomi Marne; weitere Geschäftsführer sind – neben ihren Geschäftsführer-Posten bei UFA Fiction bzw. UFA Distribution – Sebastian Werninger und Philipp Driessen. Im Laufe des Frühjahrs will Winger drei neue Projekte pitchen. Auch eine langlaufende Serie würde ihn dem Vernehmen nach reizen. Wenn man hört, wie euphorisch die Londoner Fremantle-Chefetage zuletzt von Wingers Serien schwärmte, so dürfte Big Window trotz Streaming-Einbrüchen noch eine rosige Zukunft blühen.

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