Großen Sportlern sagt man eine besondere Fähigkeit nach: Die Kunst des schnellen Vergessens – sowohl im Falle bitterer Niederlagen als auch im Falle genialer Siege. Nun ist der "Eurovision Song Contest" kein Sport-, sondern Europas größter Musikwettbewerb und doch wären einige innerhalb der ARD wohl nicht böse, hätten sie die deutschen Ergebnisse der vergangenen Jahre vergessen. In den vergangenen drei Jahren, also nach der Corona-Pause, wurde Deutschland zweimal Letzter und einmal Vorletzter, auch 2019 reichte es nur zu Platz 25 von 26. Der letzte "ESC"-Erfolg Deutschlands liegt inzwischen also sechs Jahre zurück, damals sicherte sich Michael Schulte die vierte Position. Über allem schwebt natürlich auch heute noch Deutschlands Erfolg 2010 in Oslo, als 'Lovely Lena' mit "Satellite" völlig überraschend den Sieg heimbrachte. Obwohl 14 Jahre her, geraten die Bilder auch deshalb nicht in Vergessenheit, weil unter anderem die ARD selbst sie in den vergangenen Tagen vor dem "ESC"-Halbfinale nochmals aufwärmte.

Andreas Gerling © NDR/Markus Krúger Andreas Gerling
In diesem Jahr ruhen die deutschen Hoffnungen auf dem 29-jährigen Isaak Guderian, der einst als Teenager in "X-Factor" (Vox) auftrat und vor drei Jahren eine Talentshow von Knossi gewann. Dass er sich beim deutschen Vorentscheid durchsetzte, war für nicht Wenige durchaus eine Überraschung. "Isaak ist auf der Bühne ein Vollprofi und wird das Publikum mitreißen. Alles andere liegt dann in der Hand des Publikums und der internationalen Jurys", sagte Andreas Gerling, der "ESC"-Chef der ARD, am Freitag zu DWDL.de.

Isaak startet heute beim "ESC" als Dritter

Schon als Dritter und somit recht zu Beginn der großen Show, die deutscher Zeit um 21 Uhr startet, wird Isaak "Always on the Run" performen. Seit jeher gibt es geteilte Meinungen darüber, welche Vor- oder Nachteile frühe oder späte Platzierungen in der Startliste mit sich bringen. Ob Startplatz drei für Deutschland nun gut oder schlecht sei, sei "Spekulation", sagt auch Gerling. Die ESC-Delegation des NDR ist bereits am 1. Mai, also vor rund eineinhalb Wochen nach Malmö gereist – von Hamburg aus und übrigens mit dem Bus. Am 2. Mai fand die erste Einzelprobe mit Isaak statt. Der Aufwand der Bühnenshow eines jeden Acts, er ist, wie fast jedes Jahr, enorm. "Die Kolleginnen und Kollegen vom schwedischen Fernsehen haben eine fantastische Show vorbereitet. Das ist eine Freude für jeden Unterhalter! Besonders bemerkenswert finde ich, wie ausgefeilt in diesem Jahr jeder einzelne Act inszeniert ist, bis in kleinste Details. Das hat in Teilen die Anmutung von Theater-Dramaturgien", sprudelte Gerling vor Lob.

Isaak beim ESC 2024 © EBU / Alma Bengtsson Isaak ist der deutsche "ESC"-Act - er tritt recht früh am Abend auf - als dritter Starter.

Die NDR-Delegation besteht aus neun Personen, hinzu kommen Berichterstatterinnen und Berichterstatter für TV, Radio und Online (in erster Linie sind das Personen aus dem ARD-Studio in Stockholm), eine Crew für die zentrale ARD-Website zum ESC (eurovision.de), die eigene Berichte und Sendungen produziert, und das Team für die beiden Rahmensendungen vor und nach dem ESC mit Barbara Schöneberger, die auch für ORF und SRF entstehen.

Beim ESC: Proteste gegen Teilnahme Israels

In den vergangenen eineinhalb Wochen hat die NDR-Delegation diverse Termine absolviert, unter anderem auch zwei Auftritte von Isaak bei wiwibloogs, der international größten "ESC"-Fanbase. Am Donnerstag dort mit dabei war auch Joachim Bertele, der deutsche Botschafter im Königreich Schweden. Nicht zu überhören waren in den vergangenen Tagen aber durchaus auch kritische Stimmen. Ebenfalls am Donnerstag und unmittelbar vor dem zweiten Halbfinale, in dem sich Israel für die Hauptshow am Samstag qualifizierte, fanden in Malmö gleich mehrere Demonstrationen statt – an einer nahm unter anderem auch Klimaaktivistin Greta Thunberg teil, die in den vergangenen Monaten keinen Zweifel daran ließ, dass sie im Nahost-Konflikt eng an der Seite Palästinas steht. Polizeischätzungen zufolge haben allein am Donnerstag etwas mehr als 10.000 Menschen gegen die Teilnahme Israels am "ESC" protestiert.

Eden Golan ESC 2024 © EBU / Sarah Louise Bennett Hat keinen leichten Stand: Eden Golan. Gegen die Teilnahme Israels beim ESC wird demonstriert. Buchmacher sehen Golan hingegen recht weit vorn.


Der European Broadcasting Union (EBU) warfen sie vor, Russland nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine vom Wettbewerb ausgeschlossen zu haben, Israel nun aber nach Angriffen auf den Gazastreifen nicht. Die israelische Delegation rund um Sängerin Eden Golan soll die Empfehlung erhalten haben, sich in Malmö nicht frei zu bewegen und das Hotel nur zu verlassen, um zur Malmö Halle zu kommen. VRT, der übertragende belgische Sender, hatte am Donnerstag vor und nach der Übertragung des zweiten Halbfinals eine nüchterne Texttafel eingeblendet, um auf eine "Gewerkschaftsaktion" aufmerksam zu machen. Man verurteile die "Menschenrechtsverletzungen" Israels. Zu sehen waren auch die Hashtags #CeaseFireNow #StopGenocide. Weitere Aktionen seien nicht ausgeschlossen, übrigens auch vor Ort in Malmö nicht. Dabei will der "ESC" doch eigentlich unpolitisch sein - und mit Musik unterhalten.

Joost Klein: Niederländischer ESC-Act ausgeschlossen

Störgeräusche kommen auch von anderer Stelle. Der niederländische Act Joost Klein wurde sogar gänzlich vom Wettbewerb ausgeschlossen. Gegen ihn läuft inzwischen eine polizeiliche Ermittlung, die Rede ist von einem Zwischenfall mit einer Produktionsmitarbeiterin. Schon am Donnerstag fiel Klein bei einer Pressekonferenz auf, weil er sich während einer Antwort der israelischen Teilnehmerin demonstrativ eine Flagge über den Kopf zog (ausführliche Informationen dazu finden Sie hier). So sind es kurz vor dem "ESC" am Samstag doch reichlich Themen abseits der Musik. Mit dem Lied "Hurricane", das übrigens überarbeitet wurde, wird Eden Golan am Samstag jedenfalls kurz nach Isaak auf der Bühne stehen, sie hat den Startplatz sechs.

Verrückt wird es auf Startplatz 17, der Auftritt Finnlands (Act: Windows95man) hatte schon am Dienstag für Schmunzeln gesorgt, auf Platz 23 von 26 geht zudem Kroatien ins Rennen: Von dort kommt Baby Lasagna und der Song "Rim Tim Tagi Dim" - er ist aus Sicht der Buchmacher der absolute Favorit auf den Sieg. Nach dem zweiten Halbfinale schob sich Israel mit Blick auf die Wettquoten auf Platz zwei, die Schweiz ist Dritter und Deutschland findet sich weit hinten. Am Freitagvormittag etwa lag Isaak bei den Buchmachern auf Platz 22.

"Baby Lasagna lieferte schon im Halbfinale eine wirklich tolle Show", findet auch Andreas Gerling, der die Kroaten dennoch nicht zu seinen absoluten Favoriten erheben will. Er könne sich vorstellen, dass es am Ende doch enger werde als gedacht. "Und vielleicht erwartet uns sogar noch eine Überraschung ….  das wäre doch schön für die Spannung!"

 

Thorsten Schorn habe ich gesagt: Mach' Dein Ding! Andreas Gerling

 

Verkehrt wäre Spannung sicherlich nicht, auch nicht für Thorsten Schorn. Er tritt seit diesem Jahr in die zweifelsfrei großen Fußstapfen von Peter Urban, der die deutschen Übertragungen des Musikwettbewerbs mit seinem Kommentar prägte. Schon bei den ersten beiden Halbfinals hielt der unter anderem von "Shopping Queen", "Denn sie wissen nicht, was passiert" und WDR2 bekannte Moderator sein Versprechen, die Veranstaltung nicht zur Thorsten-Schorn-Show zu machen. Dass es ihm gelang, sich in die Aufgabe so einzufügen, als wäre er irgendwie schon immer da gewesen, ist vermutlich das größte Lob, das man dem 48-jährigen Kölner machen kann. Zweifel am Gelingen hatte aber auch im Vorfeld schon kaum jemand. "Thorsten Schorn habe ich gesagt: 'Mach' Dein Ding!'", berichtet ARD-"ESC"-Chef Andreas Gerling.

Für die neunköpfige NDR-Delegation wird es übrigens schon direkt am Sonntag und erneut mit dem Bus nach Hamburg zurückgehen. Ob es für die NDR-Crew nun die letzte Reise in Sachen "ESC" war, ließ sich in diesen Tagen freilich nicht klären. In der "ESC"-Woche darüber zu sprechen, ob die Anstalt die Federführung wirklich an den MDR abgeben wird, wäre der falsche Zeitpunkt. Aber die Debatte wird, wenn nicht schon in den kommenden Tagen, spätestens im Sommer Fahrt aufnehmen.

Wie stellt sich die ARD künftig in Sachen "ESC" auf? Zumal da ja noch das verlockende Angebot eines gewissen Stefan Raab ist, jenem Mann, der 2010 beim Lena-Erfolg fahnenschwenkend mit in der Halle war, hatte er die Siegerin doch innerhalb einer Casting-Show entdeckt. Einem DWDL-Bericht zufolge will es Raab nochmals wissen und den deutschen Act 2025 senderübergreifend finden. Im Sport aber würde man jetzt sagen: "Das nächste Spiel ist sowieso erst einmal das Wichtigste".