Leichen gehören ins Fernsehen wie Desserts zum Dinner. Allein der „Tatort“ verbuchte in seinem Rekordjahr 2014 angeblich mal 127 Morde. Dank Dutzender Streamingdienste und Mediatheken dürfte sich die Gesamtzahl beseitigter Serien- und Filmfiguren seither vervielfacht haben. Kein Kapitalverbrechen, das nicht schon tausendmal fiktionalisiert worden wäre. Da ist es gar nicht so einfach, sein Publikum noch wirklich mordsmäßig zu überraschen. Es sei denn, mit einer besonderen Darreichungsform.
Deshalb hatte gestern Abend zur besten ARD-Sendezeit auch etwas Ungewöhnliches Premiere: „Das Live-Krimi-Dinner: Tödliches Spiel“. Unter dem Titel trafen im Kölner Coloneum „einige der besten Schauspieler Deutschlands und Österreichs“ aufeinander, wie es die Moderatorin Jessy Wellmer zur Begrüßung ins Mikro jubilierte. Um dem ausgetretenen Fach neue Facetten abzutrotzen, hat ihnen das Regie-Duo Nils Willbrandt und Ladislaus Kiraly allerdings keine Drehbücher mit auf die Theaterbühne gegeben, sondern nur ein paar Handlungsanweisungen. Die sind zunächst allerdings das genaue Gegenteil von innovativ.
Betreut vom eingespielten Ermittlerpärchen Jan Josef Liefers und Axel Prahl als Kommentatoren, Conférenciers und Strippenzieher, lädt der der stinkreiche Brettspielfabrikant Maximilian Kampstahl (Uwe Ochsenknecht) zum 70. Geburtstag auf ein Lustschloss im Landhausstil. Kaum jedoch, dass er mit seinen zwei Kindern Anselm (Max Giermann) und Eila (Verena Altenbergere), ihrer Lebensgefährtin Helene (Annette Frier), dem Familienanwalt Dr. Menasse (Serkan Kaya) und Sicherheitschef Rocco (Juergen Maurer) angestoßen hat, bricht Kampstahls zweite Frau Zoe (Martina Hill) sterbend zusammen. Giftmord!
Was nun folgt, erinnert an eine Partie Cluedo im Escape-Room, den Edgar Wallace gemeinsam mit Jan Georg Schütte für Hercule Poirot auf der Schillerstraße gestaltet. Während ein unaufhörliches Gewitter die Verbindung zur Außenwelt kappt, wird die durch abgehende Lawinen von einer Innenwelt ferngehalten, in der es bei Kerzenschein, Kaminfeuer und wechselseitigen Vorwürfen, Schreie im Dunkeln, Stromausfälle plus Blicke aus dem Augenwinkel hagelt. Schließlich sind, besser: machen sich alle Überlebenden mit jeder Minute tatverdächtiger.
Nach diesem Prinzip hat Robert Moore vor fast 50 Jahren schon halb Hollywood beim Krimi-Dinner „Eine Leich zum Dessert“ versammelt, dem wie hier längst nicht nur ein prominenter Gast zum Opfer fiel. Die deutsche Version klingt demnach nicht nur ein wenig provinzieller, sondern leicht abgestanden. Sie macht daraus allerdings auch überhaupt kein Hehl. Dafür erweitern ARD und ORF das Kammerspiel-Prinzip neben der Improvisation vor Studiozuschauern um den Faktor Interaktivität. Kriminalpolizeilich beraten vom halben Münsteraner „Tatort“-Duo Prahl, der das Bühnen-Geschehen aus dem Hintergrund sortiert, ist sein öffentlich-rechtliches Publikum aktiv zum Mitraten aufgerufen.
Ob es recht hat oder nicht, bleibt hier natürlich ebenso unerwähnt wie der genaue Tatverlauf. Schließlich steht das erste „Live-Krimi-Dinner“ noch mindestens bis zum zweiten in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Was man verraten darf, ist hingegen das spielfreudige Engagement fast aller Beteiligten. Die Burgschauspieler Juergen Maurer und Verena Altenberger zum Beispiel verpassen ihren Archetypen hochpräzises Timing. Annette Frier saugt spürbar Honig aus 111 Impro-Auftritten in Cordula Stratmanns „Schillerstraße“. Bei Max Giermann ist es eine ähnlich große Anzahl Parodien bei „Switch Reloaded“.
Gewiss, die Arbeit ohne Drehbuch sorgt mitunter für Längen. Der Erzählfluss stockt hier und da minutenlang. Bill Kaulitz mangelt es obendrein so ersichtlich am schauspielerischen Handwerkszeug, dass sein Sidekick als flamboyanter Party-Planer, der mit Highheels aus der Torte hüpft und ständig gackernd Konfettikanonen abfeuert, bestenfalls als PR-Gag in eigener Sache Bedeutung hat. Und auch ein paar Studio-Schalten zu Fernsehkommissaren à la Herbert Knaup oder Philipp Hochmair wirken bislang eher selbstreferenziell als handlungsrelevant. „Tödliches Spiel“ hat also durchaus noch Luft nach oben. Aber sie existiert.
Angesichts der Starensembles, die bei Jan Georg Schüttes Impro-Komödien von „Altersglühen“ bis „Fest der Liebe“ förmlich Schlange stehen, scheint der Bedarf nach experimenteller Selbsterfahrung im Kollegium groß zu sein. Wenn sich ARD Degeto und der Saarländische Rundfunk abermals zur interaktiven Bühnen-Ermittlung entschließen, müsste man sich dramaturgisch also nur noch ein Stück weiter vom Bestand emanzipieren und Jessy Wellmer etwas mehr Moderationssubstanz auf den Weg geben – dann könnten Live-Krimis ihr Metier echt bereichern.
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