In unserer hochtourigen Zeit kann die Entdeckung der Langsamkeit kaum schnell genug kommen. Aber gleich so gemächlich wie in der Magenta-Serie „Smillas Gespür für Schnee“? Wer Bille Augusts Verfilmung von Peter Høegs – bis aufs altbackene "Fräulein" im Originaltitel – nahezu gleichnamigem Bestseller kennt, dürfte sich deshalb ein wenig wundern. Denn Amma Asante hat das 1997 schon ziemlich niedrige Tempo nochmals reduziert. Aber wer weiß, vielleicht wollte die britische Regisseurin ja genau das: ein Zeichen der Entschleunigung setzen.
Falls ja, ist es ihr fast ein bisschen zu gut gelungen. In einer seelenlosen Kopenhagener Betonsiedlung freundet sich die weibliche Hauptfigur – wie deren Darstellerin Filippa Coster-Waldau halb Dänin, halb Inuit – mit dem Nachbarsjungen Isaiah an. Weil dessen Mutter wie ihre aus Grönland stammt, fühlt sich die arbeitslose Mathematikerin mit seiner mystischen Aura verbunden. Als er angeblich beim Spielen vom Dach stürzt und stirbt, versucht sie mit dem Hausmechaniker Rahid (Elyas M’Barek) deshalb die wahren Gründe ans Licht zu bringen.
Bei der Ursachenforschung stößt Smilla rasch auf Geheimnisse, die ebenso tief in ihrer eigenen Herkunftsgeschichte wie dem herrschenden Raubtierkapitalismus wurzeln. So weit, so originalgetreu. Headwriterin Asante verlagert Høegs Neunzigerjahre-Thriller allerdings in die Zukunft. 2040 ist Dänemark ein demokratischer Überwachungsstaat chinesischer Art. Klimawandel und Ressourcenknappheit sorgen für Verteilungskämpfe mit rassistischer Komponente fundamentaler Christen. Strom, Pässe, Straßen, das Netz sind buchstäblich heiß umkämpft. Davon profitieren wiederum Krisengewinnler wie Andreas Tork (Henry Lloyd-Hughes), dessen Konzern gewinnbringende Energiequellen sucht und in Grönland vermutet. Natürlich, ohne die dortige Bevölkerung am Erlös zu beteiligen.
Politischer, futuristischer, esoterischer
Mit „Frau“ statt „Fräulein“, handelt „Smillas Gespür für Schnee“ also von knallhartem Business, das über dem tauenden Eispanzer der Arktis mit Mythen, Sagen, Gebräuchen eingeborener Inuit kollidiert. Verglichen mit Bernd Eichingers deutsch-dänischem Spielfilm präsentiert sich die britisch-deutsche Serien-Fassung der Constantin dabei aber nicht nur politischer, futuristischer, esoterischer. Weil sie sehr viel länger ist, wird man das Gefühl nicht los, Amma Asante hätte die zweistündige Kino-Version nach eigenem Drehbuch auch atmosphärisch gedehnt – so wortkarg, leise, oft fast geräuschlos kriecht die Geschichte durch tief verschneite Winterlandschaften.
Mit Elyas M’Bareks illegalem Bürgerkriegsflüchtling Rahid, im Roman ein Däne namens Peter, lässt Asantes Bochumer Ko-Autorin Tanja Bubbel thematisch zwar die wüstenwarme Heimat ihres tunesischen Vaters einfließen. Aber selbst im klimatisch milderen Dänemark absorbiert eiskalte Polarluft jeden Sound gelegentlicher Action-Anflüge des militärisch-industriellen Komplexes. Häufig ist dabei nur das Knirschen einsamer Schritte im Schnee zu hören, für den Smilla bekanntlich ein besonderes Gespür hat. Dabei nervt es wiederkehrend, wie die Tochter der "GoT"-Legende Nicolaj Coster-Waldau alias Jamie Lennister ihre Titelfigur mit bedeutungsschwangerer Schweigsamkeit auflädt.
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Das bildet zwar den – vermutlich gewünschten – Kontrast zum Redefluss selbstsüchtiger Machtinteressen wie denen des Energieversorgers Tork oder der angehenden Justizministerin (Amanda Collin) an seiner Seite. Es ist aber auch Ausdruck einer Inszenierung, die sich nie so richtig zwischen kommunikativer Verknappung und Übersättigung entscheiden kann. Während Lautsprecherdurchsagen, Fernsehberichte, KI-Stimmen, Selbstgespräche oder ähnliche Proklamationen unablässig den Stand der Handlung kommentieren und deren Publikum wie so oft in deutscher Fiktion mit didaktischer Redundanz bevormunden, dürfte Smilla gern mal etwas redseliger sein. Und womöglich noch einen zweiten Gesichtsausdruck anlegen.
Stille, Vakuum, Einsamkeit
Aber wie sagt die Halbwaise einmal zur Psychologin, mit der sie das Kindheitstrauma ihrer früh (und rätselhaft) verstorbenen Mutter bespricht: "Es ist interessant, wie ihr Europäer keine Stille aushaltet." Pause. "Es ist wie ein Vakuum für euch." Pause. "Einsamkeit wird unterschätzt." Wer Stille, Vakuum, Einsamkeit und Sprechpausen nicht unterschätzt, sondern gut aushalten kann, erhält von MagentaTV – dem der ursprüngliche Auftraggeber Netflix die Serie ohne Angabe von Gründen überlassen hat – eine Lektion in postzivilisatorischer Demut am Rande der Klimakatastrophe. Inklusive der hochphilosophischen Frage, ob es legitim ist, einzelne zu opfern, um alle zu retten.
Mit annähernd sechs Stunden wird sie vielleicht ein bisschen zu lang beantwortet. Besonders das letzte Drittel, in dem sich die Erzählung zusehends nordwärts bewegt, zehrt hingegen vom Ruhepuls des leider doch nicht allzu ewigen Eises. Im Griff neokolonialen Profitstrebens, das sich durchaus geschickt als philanthropisch greenwasht, wird Grönland somit zur Chiffre der menschlichen Hybris. Und „Smillas Gespür für Schnee“ zur wortkargen, aber bildgewaltigen Mediation übers Schöpferische im Zerstörungswahn oder umgekehrt. Diese Entdeckung der Langsamkeit hätte also durchaus ein wenig schneller sein dürfen. Sehenswert ist sie trotzdem.
"Smillas Gespür für Schnee" steht ab sofort bei Magenta TV zum Streamen bereit
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