Auf der Türschwelle liegt ein mühevoll zusammengeklebtes Paket. Der Inhalt: Sieben Walkman Kassetten, deren Abspiel-Reihenfolge mit Zahlen in blauem Nagellack festgelegt wurde. Insgesamt sind es 13 Audioaufnahmen. Die mitgelieferte Anleitung: Hör dir alles an und gib sie dann an die nächste Person weiter, die auf der Liste steht. Die Tapes, sowie die Liste wurden von Hannah Baker angefertigt, einem jungen Mädchen aus Kalifornien, dass sich vor kurzem umgebracht hat. "Ich werde dir gleich die Geschichte meines Lebens erzählen – oder viel mehr, warum mein Leben endete. Und wenn du dir diese Bänder anhörst, bist du einer der Gründe dafür", eröffnet sie ihren Hinterbliebenen, die von Kassette zu Kassette immer deutlicher feststellen müssen, dass selbst kleine Details Hannah zu ihrer Entscheidung gedrängt haben. 

Das ist das simple aber schockierende Setting der neuen Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht", die von Tom McCarthy ("Spotlight") und dem Pulitzer-Preis-Gewinner Brian Yorkey ("Grease Live!") adaptiert wurde. Als Vorlage diente Jay Ashers gleichnamiger Jugendroman, der 2007 schnell zum "New York Times"-Bestseller wurde. Im Buch sowie in der Serie folgt man Hannahs Leben nicht immer chronologisch, da gerne zwischen den Perspektiven und Zeiten gesprungen wird. Was aber durchgehend offensichtlich bleibt: Es ist die Erzählung einer Geschichte über ein Mädchen, dass psychisch dermaßen brutal zusammengestaucht wurde, dass sie keinen anderen Ausweg mehr wusste, als sich selbst das Leben zu nehmen. Die Frage, die sich also von Anfang an stellt: Wieso hat niemand ihre Last gesehen?

Zum Beginn der Geschichte fallen die Bänder Clay Jensen (Dylan Minnette) in die Hände, einem ruhigen Jungen, der mit Hannah (Katherine Langford) im örtlichen Kino gearbeitet hat. Er war direkt vom ersten Kennenlernen an heimlich in sie verliebt und dementsprechend immer herzlich und nett zu ihr. Dachte er zumindest. Da er aber wohl irgendetwas immens falsch gemacht haben muss, hört er sich jede Aufnahme ganz genau an, um seine Fehler zu entdecken – und zu erfahren, wie traurig Hannahs Leben in den Endzügen wirklich war. 

Hier gelingt "Tote Mädchen lügen nicht" direkt ein Knackpunkt, der bei diesem Thema unfassbar wichtig ist. Wenn es zu Mobbing und psychischen Belastungen kommt, sind es nicht nur die Täter, die Verantwortung für ihr Handeln tragen müssen, sondern auch die Freunde im Umkreis, die gar kein Handeln übernehmen. Zwar wird nicht direkt entblößt, was Clay dazu beigetragen hat, dass sich Hannah umbringt, doch wird dem Zuschauer schnell klar gemacht, dass sie vor allem eines war: Einsam in Sachen Hilfe und Beistand. Wie es schon Jay Asher geschafft hat, hat es auch das neueste Projekt aus dem Hause Netflix geschafft, eine Analyse über ein wichtiges Anliegen zu schaffen, dass mit äußerstes Feinheit angefertigt wurde, so dass wirklich jedermann etwas daraus lernen dürfte, um seine Umgebung in Zukunft besser im Blick zu haben. 

Dafür haben sich die Macher vor allem eines genommen: Zeit. 13 Folgen sind es geworden, was bei 13 Audioaufnahmen von Hannah natürlich auch einen gewissen Sinn macht. Der Haken ist jedoch, dass die Geschichte so teilweise sehr gestreckt wird, sich manche Situationen sogar so anfühlen, als ob man sie nicht erst zwei Episoden vorher schon einmal gesehen hätte. Dadurch wirken gewisse Vorkommnisse redundanter, als sie dürften. In dieser Hinsicht ist es vor allem interessant, dass Clay die Tapes im Buch in einer einzigen Nacht durch hört, in der Serie aber einige Wochen dafür benötigt, da jede Episode mindestens einen Tag in der Gegenwart erzählt. Clays Begründung liegt darin, dass er es emotional nicht bewältigen könnte, alle Bänder auf einmal zu hören, wodurch die Frage aufkommt, warum Netflix dann nicht auch den konsequenten Weg gegangen ist, "Tote Mädchen lügen nicht" wöchentlich hochzuladen, statt im "binge-watch"-Paket.

Empfohlener externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Dadurch verfliegt also ein bisschen das Gefühl von Entertainment, ist "Tote Mädchen lügen nicht" kein Non-Stop-Adrenalin-Thriller, sondern an vielen Stellen ein ruhiges Drama, dass sich intensiv mit einer der schlimmsten gesellschaftlichen Krankheiten überhaupt auseinandersetzt. Mit dieser Handschrift hat Regisseur McCarthy erst 2016 mit "Spotlight" einen Oscar gewonnen und gezeigt, dass er sich nicht reißerisch mit solch ernsten Themen präsentieren muss, sondern wirklich eine Botschaft ausdrücken möchte.

Mutig war es von ihm, Langford in die Rolle der Hannah zu holen, die hier ihr Schauspieldebüt feiert. Doch obwohl sie mit Minnette einen derart erfahrenen Jungdarsteller an ihrer Seite hat ("Lost", "Don't Breathe", "Prisoners"), kommt zu keinem Augenblick der Gedanke auf, dass hier Schauspieler verschiedener Spielklassen zusammenarbeiten mussten. Langford mimt auf der einen Seite die coole, witzige und lebenslustige Protagonistin, die in der nächsten Szene wegen einer entblößenden Tatsache authentisch am Boden zerstört ist. Sie kann ihr Talent von Sekunde eins an entfalten und so mit ihrer Rolle spielen, dass sie nicht all zu viel von Anfang an verrät, aber doch so viel, dass man als Zuschauer weiß, dass die Gründe für ihren Selbstmord wirklich drastisch gewesen sein mussten.

Ein Lob gebührt aber auch dem Rest des Casts. Denn trotz der Tatsache, dass es hier natürlich um Hannah Baker und ihr schockierendes Schicksal geht, zeigen sämtliche Nebenrollen, dass nicht nur sie es war, die leiden musste. Auch die anderen Jugendlichen mussten und müssen mit Mobbing, geringem Selbstbewusstsein, sexueller Belästigung und vielem mehr klarkommen. McCarthy zeigt damit auf sehr einfühlsame Weise, dass manche Schicksale zwar tragischer sein können, als andere, aber selbst die Menschen, die nicht an die Öffentlichkeit gehen, aus den gleichen Gründen leiden können. Das macht "Tote Mädchen lügen nicht" zu einer toughen Serie. Zu einer ehrlichen Serie.