Durch den plötzlichen Tod von Knochenbrecher Tamme Hanken hat kabel eins nicht nur ein beliebtes und erfolgreiches Sendergesicht verloren, plötzlich bekam man auch an seinem sonst recht gut laufenden Dienstag Probleme. Ohne Hanken konnte der Sender die Primetime an diesem Tag nicht mehr durchgängig mit Eigenproduktionen bespielen: Eine Tribute-Sendung zu seinen Ehren erwies sich als Flop und Frank Rosin kann nicht das ganze Jahr über im Einsatz sein. Ein Format, das kabel eins bereits im vergangenen Sommer für dieses Frühjahr angekündigt hatte, war "Unser neuer Chef". Mit ein bisschen Verspätung schafft es die Sendung nun doch noch auf die Bildschirme - und die Verantwortlichen taten gut daran, es nicht überhastet fertigzustellen.

"Unser neuer Chef" ist nämlich richtig gutes Reality-Fernsehen geworden, das sich vor vergleichbaren Formaten nicht verstecken muss. Im Kern geht es um ein mittelständisches Unternehmen, dass eine Führungskraft sucht. Der Chef wählt drei Bewerber aus, die sich dann in allen Abteilungen einmal beweisen müssen. Am Ende entscheiden aber nicht die Chefs, sondern die Mitarbeiter, wer den Job erhält. Der Clou: Den Bewerbern wird erzählt, dass sie für eine Reportage gefilmt werden.


Dieses Konzept ist natürlich endlich: Irgendwann werden alle Bewerber wissen, dass sie nicht für eine Reportage drehen, sondern eben höchstwahrscheinlich für "Unser neuer Chef". Das hat freilich schon RTL nicht davon abgehalten, "Undercover Boss", das übrigens wie "Unser neuer Chef" auch von Tower Productions kommt, bis in den Exzess und darüber hinaus fortzusetzen. Doch anders als das RTL-Format kann "Unser neuer Chef" in einem wichtigen Punkt glänzen: Authentizität. Während es bei "Undercover Boss" nur darum geht, die Unternehmen in einem möglichst guten Licht dastehen zu lassen, nimmt man dem kabel-eins-Format den Willen ab, echt zu sein. Hier wirken keine Szenen so, als würde es ein Drehbuch geben.

Das fängt schon bei den Bewerbern an, die zumindest in der ersten Folge nicht unterschiedlicher sein könnten. Um den Job eines Bezirksleiters einer Bäckerei-Kette bewerben sich eine junge Frau, ein älterer Mann sowie ein männlicher Quereinsteiger. 10 Filialen mit rund 50 Mitarbeitern soll einer von ihnen künftig führen. Und es macht riesigen Spaß, den Bewerbern dabei zuzusehen, wie sie sich den verschiedenen Aufgaben stellen und dabei an den ein oder anderen Stellen eine gute Selbsteinschätzung vermissen lassen. Eine an sie gestellte Aufgabe, die sie in 30 Minuten erledigen muss, kommentiert die junge Bewerberin mit den Worten: "Das schaff ich auch in 20". Das sorgt für große Augen bei den zusehenden Mitarbeitern - und natürlich schafft sie es am Ende nicht. Der Quereinsteiger kann nicht wirklich gut mit Kritik umgehen und dem etwas älteren Bewerber ist die Nervosität in jeder Sekunde anzumerken - vor allem wenn er vor der Kamera reden muss.

Interessant wird es auch immer dann, wenn die Mitarbeiter das Geschehen kommentieren. Hier zeigen sich erstaunlich oft Klischees, die man sonst wohl nur bei Führungskräften erwarten würde. So diskutieren einige Frauen im Vorfeld ganz angeregt, wer denn nun ihr neuer "Chef" werden wird - und merken dabei gar nicht, dass sie eigentlich die ganze Zeit davon ausgehen, dass ein Mann den Job bekommt. Oder dann, wenn sie ernsthaft einwenden, dass die junge Frau ja doch schon ziemlich jung sei - und man da eben nie wisse, ob sie nicht vielleicht doch schwanger werde und dann nicht mehr arbeiten könne. Und der ältere Bewerber stehe ja sowieso schon kurz vor der Rente. Es sind Überlegungen wie diese, die Entscheidungsträgern in den Unternehmen stets angekreidet werden - und in "Unser neuer Chef" zeigt sich, dass plötzlich auch ganz normale Mitarbeiter so denken, wenn sie Entscheidungsgewalt haben.

Unser neuer Chef© kabel eins
Die Mitarbeiter kommentieren das Verhalten der Bewerber in kleinen Grüppchen.

Natürlich darf der Chef am Anfang ein bisschen was zur Geschichte und Philosophie des Unternehmens sagen. Anders als "Undercover Boss" rutscht "Unser neuer Chef" aber nicht auf einer Schleimspur der Seichtheit aus. Und weil es am Ende auch wirklich einen Gewinner gibt, bleibt es die ganze Zeit spannend. Wie werden sich die Mitarbeiter entscheiden? Gehen sie nur nach persönlichem Befinden oder auch nach fachlichen Qualifikationen? Letztere werden oft auf die Probe gestellt, teils wird hier auch nachgeholfen. So schickt die Produktionsfirma Tower Productions in der ersten Folgen eine Horde von Menschen in die Bäckerfiliale, in der die Bewerber zur Probe arbeiten. Vermutlich wäre es ohne diesen kleinen Kniff etwas zu langweilig geworden - und so sieht man die angehenden Bezirksleiter auch ein wenig in einer Stresssituation. Diese herbeigeführte Situation muss man nicht toll finden, sie tut dem Charme des Formats aber auch keinen Abbruch.

Zwischendurch muss einer der drei Bewerber gehen und erst ganz am Ende wird den zwei übrig gebliebenen Kandidaten mitgeteilt, dass nicht der Boss, sondern die Mitarbeiter entscheiden, wer den Posten erhält. Die wirken dann auch ehrlich überrascht. Vermutlich war es aufgrund dieses Konzeptes auch gar nicht so einfach für Tower Productions und kabel eins, willige Unternehmen zu finden. Wer gibt schon gern die Kontrolle bei wichtigen Personalien aus der Hand? Anfang des Jahres deutete kabel-eins-Chef Marc Rasmus im DWDL.de-Interview bereits an, dass das Casting sehr aufwendig gewesen sei. Neben den Unternehmen und Chefs habe man schließlich auch die Mitarbeiter gebraucht, die in der Sendung immer wieder zu Wort kommen.

Letztlich hat die Bäckerei-Kette einen neuen Bezirksleiter gefunden. Wer das geworden ist, soll an dieser Stelle aber noch nicht verraten werden. Nur so viel: Am Ende lag zwischen den zwei Kandidaten nur eine Stimme. Das wirft natürlich unweigerlich die Frage auf, was eigentlich bei einem Gleichstand passiert. Dass der oder die siegreiche Bewerber/in am Ende wie ein Schlosshund losheult, muss sich zudem nicht zwangsläufig positiv auf seine/ihre Karriere auswirken. Wer sieht schon gern den neuen Chef vor versammelter Mannschaft weinen, weil er/sie den Job bekommen hat? Aber natürlich ist die Drucksituation für die Bewerber mit einem Kamerateam im Rücken noch einmal höher als ohnehin schon.

"Unser neuer Chef" würde sich auch problemlos ins "K1 Magazin" verlängern lassen, wo man dann, ähnlich wie bei "Rosins Restaurants", einige Wochen oder Monate später noch einmal ins Unternehmen geht und zeigt, wie sich der Sieger der Sendung so im Alltag schlägt. kabel eins verzichtet darauf, stattdessen dreht sich im Magazin nach der Auftaktsendung alles um Brötchen - ein völlig anderes Thema wollte man offenbar nicht wählen. Hier lässt kabel eins Potenzial liegen. Schade außerdem, dass die erste Staffel von "Unser neuer Chef" nur vier Folgen umfasst. Es ist das eine, wenn ein Konzept auf dem Papier gut klingt - in diesem Fall haben aber alle Beteiligten auch eine richtig gute Umsetzung geliefert. So geht Reality-Fernsehen.

kabel eins zeigt "Unser neuer Chef" dienstags um 20:15 Uhr.