Briten, Engländer zumal, neigen ja angeblich zur pedantischen Selbstkontrolle. Ausdauerndes Aufreihen an der Bushaltestelle zählt da ebenso zum Verhaltenskodex wie die Stiff Upper Lip beim High Tea. Schenkt man Asterix‘ Abenteuern Glauben, dann tranken schon die alten Kelten gern „heißes Wasser mit einem Schuss von die Milch“, bevor sie mit feiner Sichel akkurat den Rasen gestutzt haben. Kollektive Enthemmung im Drogenrausch zählt folglich nicht grad zur typischen Assoziationskette britischer Gepflogenheiten. Das aber könnte sich nun ändern. Radikal sogar. Sofern man Britannia sieht.

Wenn der angloamerikanische Neunteiler nach dem US-Start auf Amazon Prime heute auch bei Sky zu sehen ist, geht es nämlich nur vordergründig ums nächste Stück Historytainment vor antiker Kulisse. Sein Wesenskern ist ein fortwährendes Delirium, in dem sich sämtliche Protagonisten der opulenten Serie befinden. Erdacht von den Brüdern Jez und Tom Butterworth, die 2001 mit Nicole Kidman als Birthday Girl ihren Durchbruch hatten, erzählt Britannia die römische Eroberung Englands zu Beginn unserer Zeitrechnung. Und falls in dem Geschichtsepos auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit steckt, erlebte die Insel vor knapp 2000 Jahren eine Dauerorgie blutrünstiger Hippies. Ein opulentes Historienmärchen auf Halluzinogenen.

Im Zentrum steht der römische Feldherr Aulus Plautius. Glaubhaft machtbesessen gespielt von David Morrissey, der schon seinem „Governor“ im Zombie-Krieg Walking Dead zu staatstragender Boshaftigkeit verhalf, macht er sich das zerstrittene Land der Kelten Untertan. Bis die – abgesehen vom römischen Kaiser Vespasian (Fortunato Cerlino) – wohl einzig real existierende Figur zum Gouverneur der Provinz aufsteigt, kriegt sie es jedoch mit allerlei Einheimischen der außergewöhnlichen Sorte zu tun. Dem bizarren Waldgeist Veran (Mackenzie Crook) zum Beispiel, dessen Okkultismus den strebsamen Legionär Antonius (Aaron Pierre) in seinen Bann zieht. Oder dem Druiden Divis (Nikolaj Lie Kaas), der seine eigenen Götter mit aller spirituellen Macht gegen die der Invasoren verteidigt, während sich die wild pubertierende Cait (Eleonor Worthington Cox) in seinem Schlepptau auf Rachefeldzug gegen die römischen Mörder ihrer Mutter befindet.

Im Umfeld dieser gänzlich unzivilisierten Welt grobschlächtiger Burgen und schäbiger Hütten dürfen sie meist ganz zeitgenössisch verfaulte Zähne, zerfetzte Kleidung, pechschwarze Finger haben. Sofern es denn Männer sind. Frauen jedoch, die Stammesführerinnen Kerra (Kelly Reilly) und Antedia (Zoë Wanamaker) etwa ebenso wie ein paar dezent gesichtstätowierte Prinzessinnen samt Gefolge namens Ania oder Islene sind durchweg zu schön für diese dreckstarrende, hygienefremde, überlebenszentrierte, spiegellose Epoche. Das ärgert Puristen gewiss noch mehr als die unkomplizierte Kommunikation grundverschiedener Kulturkreise in fließendem Englisch, dem noch nicht mal das moderne „Fuck“ in jedem zweiten Satz fehlt.

Und auch sonst: Die Pfeile der Bogenschützen treffen gar bewegliche Ziele besser als heutige Präzisionsgewehre mit Zielfernrohr, während Schwerter beim Schlachten stets Blutfontänen in Geysir-Stärke entfachen, was an Effekthascherei von der permanenten Kamerafahrt durch die – zugegeben atemberaubende – Schönheit walisischer Steilküsten noch übertroffen wird. Auch Britannia ersäuft also viel Inhalt unter der schicken Oberfläche. Das wäre überaus ärgerlich, würde die Serie nicht trotzdem so ungemein fesseln.

Denn was Amazon Prime da in seiner ersten Koproduktion mit Sky herstellen ließ, ist ein würdiger Pausenfüller im Jahr vorm Finale von Game of Thrones. Obwohl es weder Drachen noch Zombies gibt, krankt er zwar an der Behauptung, über die Eroberten gäbe es ähnlich den Eroberern gesichertes Wissen, während Belege örtlicher Zivilisation erst lang nach der römischen Eroberung zu finden sind; selbst über die Vorherrschaft der Kelten zu jener Zeit herrscht akademischer Unfriede. Im zugkräftigen Fernsehfach geschichtsbasierter Hochglanzfiktion ist das jedoch Haarspalterei. Historical Fantasy, wie es offiziell genannt wird, darf alles, muss gar nichts, solange es den Zuschauern gefällt. Und das dürfte es.

Denn zwischen dem schöpferisch-philosophischen Schlachtengemälde von Westeros und dem historisch grundierten, heillos überfrachteten HBO-Geschichtsdrama Rome nimmt Britannia gewissermaßen die Mittelposition aus Denkbarkeit und Dichtung ein, als hätte David Lynch seine Finger im Spiel. Zumal die rauschhafte Inszenierung ineinander verschwimmender Bild- und Traumsequenzen noch ein weiteres Element der Vorbilder nutzt: Toughe Alphafrauen in testosterontriefender Umgebung. Das rückt nicht nur den bildstarken, aber inhaltsschwachen Faktor ausgestellter Sexualität angenehm in den Hintergrund. Dank der ebenso attraktiven wie willensstarken Vorstellung von Kelly Reilly über Zoë Wanamaker bis Liana Cornell oder Callie Cooke sorgen die Produzententeams um James Richardon (Vertigo) und Pippa Harris (Neal Street) mit wechselnden Regisseuren für Abwechslung im Männerbusiness TV-Serie. Die Herren der Schöpfung sind da oft nur Schlachtvieh. In einem psychedelischen Gemetzel von epischer Größe.