Wer heute, im Jahr 2019, Fritz Langs Meisterwerk von 1931, "M – Eine Stadt sucht einen Mörder", einen der allerersten deutschen Tonfilme, anschaut, wird trotz körniger Bilder und getragenem Erzähltempo von der bedrohlichen Atmosphäre gefangen sein. Zwar stehen das Verschwinden etlicher Kinder in Berlin und die Jagd nach dem psychisch gestörten Serienkiller, der sie auf dem Gewissen hat, im Vordergrund. Doch es ist die dahinter liegende dunkle Ahnung des aufkommenden Nationalsozialismus, die Langs Film auch zum beklemmenden gesellschaftspolitischen Statement macht.

Es gehört Mut dazu, ausgerechnet "M" einem zeitgenössischen Remake zu unterziehen. Gut, dass Österreichs Serienwunderkind David Schalko seinen erzählerischen, visuellen und produzentischen Mut schon mehrfach unter Beweis gestellt hat. Er weiß genau, was er tut, wenn er "M" nimmt und einen Sechsteiler im Wien der Jetztzeit daraus macht. Die fiktionale Studie über die Auswirkungen einer Reihe von Kindermorden auf die verschiedenen Schichten der Gesellschaft scheint heute so dringlich wie damals. Schalko schöpft alle Chancen aus und schafft mit seinem "M" ein modernes Meisterwerk.

Im tiefsten Winter verschwinden mehrere Kinder spurlos, zuerst die kleine Elsie, nachdem sie von ihrer völlig überforderten Mutter (Verena Altenberger) abends allein zum Spielplatz geschickt wurde. Sie und der fremdgehende Vater (Lars Eidinger) geraten bei der Polizei sogleich unter Verdacht. Doch dann tauchen weitere Kinderleichen auf. Immer wenn der mysteriöse Mörder (Gerhard Liebmann) zuschlägt, ertönt – wie in Langs Klassiker – das leitmotivisch eingesetzte Pfeifen aus Edvard Griegs "Peer Gynt"-Suite. Als die Ermittlungen der Polizei keine Fortschritte machen, nutzt der rechtskonservative Innenminister (Dominik Maringer) die zunehmende Angst in der Bevölkerung aus, um im Zusammenspiel mit einem skrupellosen Medienmogul (Moritz Bleibtreu) Ausnahmezustand und Überwachung zu propagieren. "M" wird zum öffentlichen Fall, fast jeder zum Verdächtigen. Sogar die Wiener Unterwelt fühlt sich in ihrem regulären kriminellen Treiben so gestört, dass sie unter Anführung ihrer Gangsterkönigin (Sophie Rois) selbst auf Mördersuche geht.

Der erste Eindruck von der fesselnden Miniserie ist ein optischer: Schalko zeigt die Unmengen von Schnee in den engen Wiener Altstadtgassen weißer als weiß, das Blutrot von Elsies Jacke, einem Strauß Rosen oder einem Ball als maximalen Kontrast. Dafür sind viele andere Bilder gezielt farbentsättigt. Die körperliche Haltung jeder Figur scheint Szene für Szene durchchoreografiert. Diese Form der Stilisierung entrückt das Geschehen einem 1:1-Realismus und transportiert es stattdessen in eine Sphäre der bewussten künstlerischen Überhöhung, wie sie in deutscher TV-Fiction fast nie zu sehen ist. Dass Schalko hiermit einmal mehr polarisiert und mancher Zuschauer sein gewohnt bequemes emotionales Andockmoment vermisst, war bereits nach der Berlinale-Premiere zu hören.

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Freilich sorgen sowohl die Drehbücher, die Schalko zusammen mit seiner Ehefrau Evi Romen geschrieben hat, als auch starke schauspielerische Leistungen dafür, dass die Optik keineswegs l'art pour l'art bleibt. Erzählerisch bezieht der Thriller seine Spannung aus zwei reichhaltigen Quellen: einerseits dem immer engeren Einkreisen des Kindermörders durch die rivalisierenden Teile des allgemeinen Mobs, andererseits den psychologischen Brennglas-Analysen der tiefen inneren Konflikte und daraus resultierenden Handlungsmotive der zentralen Figuren. Keiner ist im moralischen Sinn abgrundtief schlecht, aber jeder trägt ein bisschen Schuld und glaubt noch viel mehr Schuld im jeweils anderen zu erkennen. Die vermeintlich abgeschotteten Schichten – Polizei, Politik, Presse, Unterwelt und normale Bevölkerung – weisen immer mehr unerwartete Berührungspunkte auf.

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Verena Altenberger gelingt der eindrucksvolle Spagat, dass man für ihre völlig entgleiste Mutterfigur, diagnostiziert mit dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom, eher Anrührung als Hass empfindet. Sophie Rois spielt die Unterweltpatin als bedrohliche Rumpelstilzchen-Figur, Dominik Maringer den Rechtsausleger in der Regierung als erschreckend faszinierenden Populisten-Prototyp. Unter den prominent besetzten Nebenrollen stechen Udo Kier als rätselhafter Fotograf im Fuchspelz und Julia Stemberger als komplexbeladene Psychologin hervor.

"Ein dunkles Schauermärchen, das am Vorabend einer noch dunkleren Zeit spielt", wollte Schalko nach eigenem Bekunden mit seiner Serienfassung von "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" erzählen. Das ist ihm zweifellos gelungen. In Österreich mag sich das angesichts so mancher fragwürdiger Tendenz der amtierenden Mitte-Rechts-Regierung besonders beklemmend anfühlen. Doch der brutal-kunstvoll gespannte Bogen von Fake News bis Faschismusgefahr ist überall dort als mahnendes Lehrstück zu verstehen, wo Opportunismus, Ausgrenzung und Fremdenhass gedeihen.

Alle sechs Folgen von "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" sind ab Samstag, 23. Februar auf TV Now, dem Streaming-Portal der Mediengruppe RTL, abrufbar.