Wenn Juli Zeh vor die Haustür ihres brandenburgischen Dorfes tritt, muss es zugehen wie im Ring. Ständig rasseln zugezogene Westler und eingeborene Ostler auf-, an- oder ineinander, dass es nur so scheppert. Landeier und Stadtflüchtige leben ebenso Jägerzaun an Jägerzaun wie Grünrote und Schwarzbraune, Schlaumeier und Einfaltspinsel, Streithähne und Friedensengel, Nostalgiker und Millennials, Besitzstandswahrer oder Weltverbesserer, vorgestern und übermorgen, Geld und Armut, Arte und RTLzwei. Wer der Schilderung ihrer Wahlheimat glaubt, kann vermutlich kaum glauben, dass dieser aufgewühlte Flecken Erde mehr ist als eine Kopfgeburt der fantasiebegabten Schriftstellerin.

Doch weit gefehlt.

Die Bewohner von „Unterleuten“ des gleichnamigen Romans seien zwar „Abstraktionen“, wie Juli Zeh im Gespräch einräumt. „Aber ich habe an keiner Stelle übertrieben“, fügt sie angesichts einer aufwühlenden ZDF-Verfilmung lachend hinzu, „eher schon untertrieben“. Andernfalls, die Autorin klingt jetzt wieder sehr ernst, wäre „Unterleuten“ wohl „vielen als Farce erschienen“. Konjunktiv. Wer sich die drei epischen Teile unter der Regie des Potsdamer Epik-Experten Matti Geschonneck in aller Ruhe betrachtet, kommt allerdings auch im Indikativ aus dem Kopfschütteln über so viel Hass, Intrigen, Neid und Selbstsucht unter Nachbarn kaum noch heraus.

Allein: so aberwitzig die Erzählung auch sein mag – sie ist von einer raumgreifenden Wahrhaftigkeit, die nachdenklich macht und auch ein wenig demütig. Gleich zu Beginn nämlich stapft die Business-Domina Anne Pilz (Mina Tander) die edlen Highheels in Händen barfuß durch Brandenburgs Idyll, um Bürgermeister Seidel (Jörg Schüttauf) zu überzeugen, an dieser Stelle einen Windpark zu bauen. „Drei ist eine gute Zahl“, sagt sie, als ihr der Kurzarmhemdträger die der betroffenen Landbesitzer nennt und blühende Landschaften erwähnt, an denen es seinem Dorf fehlt. „Bald geht es aufwärts mit Unterleuten“, meint die Städterin da kühl, worauf Seidel in aller Wärme „das wird sicher aufregend“ entgegnet.

In der Tat. Denn selbstverständlich begehrt sein Ort ähnlich hasserfüllt gegen die zehn kirchturmhohen Windräder auf wie überall in Deutschland, sobald die theoretisch begrüßte Energiewende vorm eigenen Hoftor Praxis zu werden droht. Der Altkommunist Kron (Hermann Beyer) zum Beispiel wittert ein kapitalistisches Komplott und der Vogelkundler Prof. Dr. Fließ (Ulrich Noethen) die Störung seiner gemütlichen Stadtflucht. Der Traktorist Björn (Alexander Hörbe) befürchtet die Abwicklung seines Arbeitgebers und die Pferdezüchterin Linda (Miriam Stein) ein Ende aller Gestütsträume. Der grobschlächtige Schaller (Charly Hübner) ist ohnehin gegen alles und der Rest des Dorfes grundsätzlich skeptisch jeder Veränderung gegenüber.

Kein gutes Pflaster also für ein Stück Zukunft im Refugium ostdeutscher Vergangenheit – wäre da nicht die Aussicht auf Profit. Denn der erzeugt zügig ein intrigantes Wechselspiel selbstsüchtiger Haltungshalsen, bei dem der frühere LPG-Chef Gombrobwski (Thomas Thieme) virtuos die Strippen zieht, alte wie neue Wunden aufreißt und dabei ein Freiluftkammerspiel auf dem Niveau klassischer Tragödien orchestriert. Gut, wie in fast jeder fiktionalen Milieustudie aus Deutschland laufen die Unterleutener dabei etwas zu bedeutungsschwanger durchs Dorf oder blicken noch bedeutungsschwangerer durch Gardinen.

Aber wie sich die Menschen hier in aller Nähe entzweien, während zwischen der brüllenden Sprachlosigkeit dieser kommunikationsgestörten Epoche andauernd ein Laster durchs Dorf fährt und die Scheiße aus dem Untergrund saugt, weil Unterleuten zwar viel Sonne, aber keine Kanalisation hat – das ist Realsymbolik auf höchstem Niveau. Auch wenn Juli Zeh eher mit dem Gegenteil gerechnet hatte. Stolze 17 gleichrangig handlungsrelevante Sprechrollen, verteilt auf 280 Minuten engmaschiges Sozialdrama: verglichen mit ihren bisher verfilmten, personell weit übersichtlicheren Romanvorlagen habe sie da anfangs nur gedacht: „Na, viel Spaß!“ Nach fünfmaliger Ansicht des Resultats Magnus Vattrodts Drehbuch allerdings ist sie voll des Lobes. Und zwar zu Recht.

Schließlich erzählt Geschonneck am Beispiel dieses Mikrokosmos‘ den Lauf unserer Zeit, die sein ortsübliches Dorfgestirn Gombrowski gut auf den Punkt bringt: Auch er sei gegen Windräder, beteuert der seelenverkarstete Landwirt. Aber wenn Unterleuten sie zum Weiterleben brauche, „dann entscheide ich mich dafür“. Dieser verdrängungskundige, in der Politik würde man sagen: populistische Opportunismus kennzeichnet so viele Interaktionen dieser verwirrten Epoche, dass „Unterleuten“ zu Deutschland wird und Deutschland zum Dorf.

Das Verdienst der Verfilmung besteht allerdings mehr noch darin, Juli Zehs Personal wie die Autorin selbst nie der Verächtlichkeit preiszugeben. Die Autorin wollte schließlich schon deshalb niemand an den Karren fahren, „um meinen Alltagsfrieden nicht zu gefährden“. Sonst könnte die Situation bei ihr vor der Haustür ähnlich eskalieren wie in Unterleuten, wo das gemeinsame Gegeneinander nur deshalb nicht apokalyptisch endet, weil die Kinder der Alten am Ende für Ausgleich sorgen.

Man darf darin ruhig Vorboten von Fridays for Future erkennen, den anständigen Aufstand der Generationen Y bis Z gegen die Verheerungen der Nachkriegskinder und Babyboomer. An einem Ort, der in uns allen steckt. Leider. „Man muss nicht immer das Schlimmste annehmen“, sagt mal jemand zum gramgebeugten Kron, als der mutmaßt, die Katze seiner Enkelin sei ermordet worden. „Hilft aber“, antwortet Opa da. Gegen diese Provinz, so lernen wir in viereinhalb Stunden Unterleuten, ist jede Großstadt ein Ponyhof.

Das ZDF zeigt "Unterleuten - Das zerrissene Dorf" am Montag, Mittwoch und Donnerstag jeweils um 20:15 Uhr. In der Mediathek stehen bereits alle Folgen zum Abruf bereit.