Rund 1,7 Millionen Menschen leben in Deutschland derzeit mit der Diagnose Demenz. Weil die Gesellschaft immer älter wird, könnten es bis 2050 bis zu drei Millionen sein. Das Thema ist also schon heute sehr präsent - und wird immer wichtiger. Und doch ist die Demenz nach wie vor oft ein Tabuthema. Betroffenen fällt es schwer, um Hilfe zu bitten und Angehörige oder Freunde tun die Krankheit oft als Tüdeligkeit ab. Das ZDF startet nun mit "Unvergesslich – Unser Chor für Menschen mit Demenz" eine Sendung, die Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt rückt. 

Bei dem Format handelt es sich um eine Adaption des britischen Originals "Our Dementia Choir". Im Kern geht es darum, dass sich einige Demente gemeinsam mit Angehörigen zusammenfinden, um einen Chor zu gründen. Durch das Singen soll die Lebensqualität gesteigert werden, was auch durch eine wissenschaftliche Begleitung untermauert werden soll. Und den Machern von Tower Productions ist ein wahrlich ergreifendes und authentisches Format gelungen, das seine Protagonisten nicht nur ernst nimmt, sondern ihnen auch die Möglichkeit gibt, Menschen über das Thema Demenz aufzuklären. 

"Endlich wird mal was gemacht für uns", sagt einer der Teilnehmer und das zeigt schon ganz gut, wie sich viele an Demenz Erkrankte fühlen. Und so finden sich 17 vorwiegend ältere Menschen zur ersten Chorprobe zusammen. Gemeinsam mit Eddi Hüneke von den Wise Guys begrüßt Annette Frier die Chormitglieder und stellt den Fahrplan vor: Nach einigen Proben wird man ein großes Konzert vor Publikum geben. Und während der gesamten Zeit untersucht ein wissenschaftliches Team regelmäßig, welche Auswirkungen das Singen auf die Erkrankten, aber auch auf deren Angehörigen, hat. 


Hier und da ist es schon ulkig, wenn nun fast 20 Menschen lauthals Hits von Udo Jürgens schmettern - und man ausgerechnet die Moderatorin am lautesten hört. Eine reine Musiksendung ist "Unvergesslich" aber nicht. Streng genommen nehmen die Chorproben pro Folge nur einen recht geringen Anteil ein. Frier besucht die verschiedenen Protagonisten auch zu Hause und lässt sich ihre Geschichte erzählen. Und genau davor hatte sie im Vorfeld der Sendung auch am meisten Respekt, wie sie im April gegenüber DWDL.de verriet

"Es löst sich nicht nur ein ich auf, es löst sich ein wir auf."
Angehörige eines Demenz-Erkrankten

Doch Frier macht das empathisch und stets auf Augenhöhe. Dabei kann sie auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, ihre Oma erkrankte einst auch an Demenz. Das thematisiert Frier in der Sendung gemeinsam mit ihrer Mutter. Die Gespräche fordern nicht nur Frier und ihre Mutter, sondern auch die Teilnehmer des Chors. Nicht selten fließen Tränen, weil die Diagnose Demenz in vielen Fällen eben ein sehr einschneidendes Erlebnis ist. "Es löst sich nicht nur ein ich auf, es löst sich ein wir auf", sagt die Frau eines an Demenz erkrankten Chor-Teilnehmers. Es sind Sätze wie diese, die unter die Haut gehen aber trotzdem so gut sind, weil sie den Zuschauern die Härte des Themas schonungslos vor Augen führen. 

Zeigen, was ist - ohne Tabus

Die Macher haben gute Arbeit geleistet und viele Menschen gefunden, die offen und ehrlich über ihre Erkrankung und Erfahrungen sprechen. Etwa auch darüber, dass sich viele Freunde nach der Diagnose von ihnen abgewandt haben - aus welchen Gründen auch immer. Das ist öffentlich-rechtliches Fernsehen par excellence: Hier fällt ein Tabu und es wird nichts mehr totgeschwiegen. Es ist vielleicht schwer auszuhalten, wie ein erwachsener Mann vor einer stinknormalen Uhr steht und diese nicht mehr lesen kann - aber es gehört eben zum Alltag vieler Menschen in diesem Land. 

Das ZDF-Format räumt auch mit der Vorstellung, bei der Demenz würde es sich um eine Krankheit von ausschließlich alten Menschen handeln, auf. Der jüngste Teilnehmer des Chors ist 62 Jahre alt und bekam die Diagnose noch vor seinem 60. Geburtstag. Im Gespräch mit den Wissenschaftlern wird außerdem deutlich, dass es teilweise schon Menschen ab 45 Jahren trifft. Die Wissenschaftler wecken gleichzeitig keine falschen Versprechungen: Das Singen könne die Demenz nicht heilen, sagen sie. Aber Chancen auf eine Verlangsamung der Krankheit gibt es eben doch. "Das gemeinsame Musizieren habe ich als Pille empfunden", sagt Frier über die Erfahrungen mit ihrer Oma. Der Altersunterschied zwischen den Teilnehmern der Sendung ist übrigens enorm, die älteste Dame in der Runde ist 93 Jahre alt. Zwischen ihr und dem jüngsten Teilnehmer liegen also knapp 30 Jahre. 

Unvergesslich – Unser Chor für Menschen mit DemenzAnnette Frier, Eddi Hüneke und der "Demenz-Chor".

Und immer wenn man gerade vergessen hat, dass es eigentlich um Demenz geht, grätscht die Sendung voll dazwischen. Da blättert die 89-jährige Rita im Fotoalbum, zeigt auf ein Bild und sagt, die Person neben ihr sei ihr Bruder. Tatsächlich ist es ihr Mann. Auch sich selbst erkennt sie auf Fotos nicht mehr. Als eine Chor-Teilnehmerin bei der zweiten Probe sagt, sie sei aufgeregt, weil sie ja zum ersten Mal dabei sei, wird sie von Angehörigen korrigiert. "Einerseits sind wir schon recht weit", sagt Annette Frier am Ende der zweiten Ausgabe. "Andererseits fangen wir immer wieder von vorn an."

Mit dabei sind auch immer wieder einige prominente Gäste. Max Mutzke etwa, der mit dem Erkrankten singt oder Cordula Stratmann. Fixer Anlaufpunkt bei jeder Probe sind aber Frier und Eddie Hüneke. Gedreht wurde "Unvergesslich – Unser Chor für Menschen mit Demenz" zwischen Januar und März - das Coronavirus hatte also Auswirkungen auf die Produktion und das wird an wenigen Stellen auch sichtbar. Frier führt Gespräche mit Wissenschaftlern teilweise nur via Video-Call, was teilweise skurril wirkt, wenn die Moderatorin abgefilmt wird, wie sie in ihr Smartphone starrt. Das ist ungewöhnlich, ändert aber an der Qualität des Gesprächs nichts. 

Tower Productions und das ZDF haben mit dem "Demenz-Chor" ein starkes und ehrliches Format auf die Beine gestellt, das aufklärt und alleine schon deshalb möglichst viele Zuschauer verdient hat. Ein Sendeplatz um 20:15 Uhr wäre ein starkes Signal gewesen, auch wenn sich das Format hier voraussichtlich sehr schwer getan hätte. Das mussten die Mainzer zuletzt auch bei "Mit 80 Jahren um die Welt" feststellen. Wohl auch angesichts dieser Erfahrungen zeigt man "Unvergesslich" immer am späten Dienstagabend. Los geht’s um 22:15 Uhr, die drei weiteren Ausgaben beginnen eine halbe Stunde später. Trotz des späten Sendeplatzes lohnt sich das Einschalten. Selten war öffentlich-rechtliches Fernsehen stärker. 

Das ZDF zeigt ab sofort jeden späten Dienstagabend vier Ausgaben von "Unvergesslich – Unser Chor für Menschen mit Demenz". Alle Folgen stehen auch bereits in der Mediathek.