Die Erinnerung an längst vergangene Fernsehzeiten ganzer drei Programme verblasst mittlerweile selbst in denen, die sie noch erlebt haben. Sendeschluss um Mitternacht, relevante Themen zur Primetime, Zappen unter Gleichen – all das ist beinahe 40 Jahre her. Oder ganze 14 Stunden, je nach Perspektive. Gestern Abend nämlich landeten Nachkriegskinder kurz in der eigenen Vergangenheit, also ständig im selben Film.

Nach der ehrwürdigen „Tagesschau“ begann statt des ähnlich gealterten „Tatort“ das, was heute „Event“ heißt oder öffentlich-rechtlicher: Ereignis. Auf elf Kanälen machte Ferdinand von Schirachs „Feinde“ die reale Kindesentführung Jakob von Metzlers zur multimedialen Fiktion. Ende 2002 hatte der Fall des gekidnappten Bankierssohnes bundesweit für Furore gesorgt, weil der ermittelnde Polizist dem verschwiegenen Täter Gewalt angedroht hatte, falls er das Versteck des Jungen nicht offenbart.

In Schirachs Version geht es um Lisa von Bode, zwölfjährige Tochter schwerreicher Eltern, die vom eigenen Sicherheitsmann Georg Kelz (Franz Hartwig) in einer Industrieruine festgehalten wird, um fünf Millionen Euro zu erpressen. Die einberufene SOKO kommt ihm zwar rasch auf die Spur, kann aber nichts beweisen, weshalb Kommissar Nadler (Bjarne Mädel) mithilfe von Folter ein Geständnis erzwingt. So weit, so brachial, so vorhersehbar. Immerhin war das rechtswidrige Vorgehen des realen Cops 2012 bereits Basis des preisgekrönten ZDF-Films „Der Fall Jakob von Metzler“ mit Robert Atzorn als Polizeipräsident Daschner.

Was neun Jahre später einen Countdown rechtfertigt, mit dem das Erste acht Stunden bis zum Start im Bildschirmeck runterzählt, ist hingegen die dramaturgische Aufspaltung der Perspektiven. Während das Hauptprogramm „Feinde“ überm Untertitel „Gegen die Zeit“ aus Nadlers Sicht schildert, zeigen alle Dritten plus One eine etwas andere Version namens „Das Geständnis“. Der Fall wird darin aus Sicht von Kelz‘ Anwalt Konrad Biegler (Klaus Maria Brandauer) dargestellt. Virtuos stellt er Nadlers illegale Verhörtaktik ins Zentrum seiner Verteidigung. Und nicht nur das.

Für die Mediathek hat Regisseur Nils Willbrandt das Geschehen auch noch in der Onlinefassung „Der Prozess“ zusammengefasst, wo es mit Splitzscreens und Zappelschnitten für Internet-Ansprüche verkürzt wird. Drei verschiedene Lesarten desselben Drehbuchs also, verteilt auf ein knappes Dutzend Kanäle – Effekthascherei oder Experiment? Dafür bot es sich an, die Ausstrahlungen zeitgleich von ARD über NDR, MDR, SWR bis One zu sehen. 20.15 Uhr, Countdown abgelaufen: Während die ARD das Entführungsopfer noch beim Verabschieden in der streng bewachten Luxusvilla zeigt, wird sie im Dritten bereits zu jenem Gefängnis gebracht, das Lisas Grab werden soll.

Nach einer knappen Viertelstunde bewegen sich die Szenarien mit nahezu identischem Ablauf zweiter Kameraperspektiven zwar im ungeplanten Tod der Gefangenen aufeinander zu. Bei den Landesfunkhäusern allerdings konzentriert sich das Geschehen fortan auf Nadlers Kampf gegen die Zeit, der Mutterkanal dagegen zeigt zunächst Bieglers Alltag, in dem der Kettenraucher seine Altersleiden mit einer Unzahl Pillen verwaltet und die Fahrt zum Medizincheck durch Annahme des Mandats von Georg Kelz verzögert.

Viele Szenen sind Wiederholung

Hier ein gerechtigkeitsgetriebener Bulle, dessen professionelle Distanz mit jeder vergeblichen Ermittlungssekunde emotionalerer Hektik weicht. Dort ein rechtsstaatsgetriebener Starverteidiger, der parallel dazu beim teuren Dinner mit seiner Frau Witze übers Fahrradfahren für elitäre Alphamänner wie ihn macht. Diverser könnten männliche Protagonisten kaum sein. Und analog zu den Biografien driften auch ihre Handlungen auseinander. Allerdings nur, um sich an anderer Stelle zu vereinen – etwa als Kelz seinem Anwalt in Rücklenden illegales Waterboarding schildert, das Nadler einen Kanal weiter in Echtzeit durchführt. Dann beginnt fünf Minuten nach den Regionalkanälen auch bei der ARD ein Justizschauspiel, das niemand besser zu inszenieren versteht als der schreibende Strafrechtler Ferdinand von Schirach.

Wie der Bühnenveteran Brandauer den versachlichten Komiker Mädel peu à peu vom moralisch überlegenen Staatsdiener zum juristisch unterlegenen Verfassungsbrecher zerlegt, das ist – auch dank exzellenter Darstellerinnen von Ursina Lardi bis Katharina Schlothauer – wahrhaftige Fiktion auf höchstem Niveau. Im Gegensatz zu Schirachs verfilmten Theaterstücken „Terror“ und „Gott“, in denen er das Publikum am Beispiel juristischer Grenzfälle über Recht und Gerechtigkeit entscheiden ließ, hat Deutschlands „Ein-Mann-Ethikrat“ (Süddeutsche Zeitung) dieses Courtroom-Drama schließlich explizit fürs Fernsehen verfasst und das sogar dreifach.

Genau darin allerdings besteht auch sein Mangel. Abgesehen von der personellen Gewichtung, mag es zwar auch ästhetisch variieren; die Farbgebung im Gerichtssaal der Dritten zum Beispiel ist eher warm und erdig, die im Ersten dagegen bläulich kühl. Darüber hinaus aber fragt sich schon, warum Regisseur Willbrandt beide Versionen, die anschließend in umgekehrter Reihenfolge laufen, nicht am Stück erzählt, weshalb man – inklusive einer halbstündigen Dokumentation plus „Tagesthemen“ – also 210 Minuten Sonntagszeit für etwas investieren muss, das sich durchaus auf einen Zweistünder verdichten ließe.

Viele Szenen sind schließlich Wiederholungen, ganze Passagen deckungsgleich. Und wer bereits um 21 Uhr ertragen hat, wie die Kamera frontal aufs Waterboarding hält, konnte im Anschlussfilm womöglich gut auf derart explizite Bilder verzichten. Die Möglichkeit, sich dank „ruhiger, nachdenklicher Filme“ ein „echtes Urteil“ zu bilden, wie es von Schirach tags zuvor in den „Tagesthemen“ vorschlug, hätte ja schon deshalb in einen ebenso ruhigen, nachdenklichen, nur längeren gepasst, weil das Urteil jeweils Freispruch lautet. Zur Abstimmung wurde allein in der Doku gebeten, und da auch nur 100 Zuschauer einer Kinovorführung. In Erinnerung an längst vergangene Zeiten dreier Fernsehprogramme lautet das Urteil über dieses Experiment also: ein bisschen weniger wäre noch viel mehr gewesen.

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